Hohelied-Vulgata
DAS HOHELIED
Das Hohelied ist eine sehr gute, schon auf Luther zurückgehende Übersetzung des hebräischen Titels »sir hassirim« (Lied der Lieder), den die Septuaginta und die Vulgata wörtlich wiedergeben (canticum canticorum). Es darf schon dem Umfang nach nicht überschätzt werden. Es ist mit seinen acht kurzen Kapiteln halb so groß wie etwa die Erzählung von Joseph in Ägypten. Aber sein Inhalt hat seit je Aufsehen erregt. Es ist Liebeslyrik, eine Reihe von Einzelliedern, die durch Wiederholungen sowie durch Art der Schilderung und Sprache als Werk ein und desselben Dichters gekennzeichnet sind. Vorherrschend ist die Form von Beschreibungsliedern und Wechselreden. Für ein Drama ist zu wenig Handlung und Gedankenfortschritt vorhanden. Sprache und Wortschatz mit ihren Aramaismen, Parsismen und Gräzismen zeigen, dass es spät verfasst wurde, etwa zwischen 400-200 v. Chr. Die Überschrift »von Salomo« ist jüngerer Auffassung nach Art der Weisheitsschriften und war dadurch nahegelegt, dass der Bräutigam z.T. als »König Salomo« gefeiert wird (3. Kap.). Wenn man den uns fremden sittlichen und kulturellen Standpunkt eines orientalischen Volkes berücksichtigt, darf man die Lieder nicht als ungeziemend und unsauber bezeichnen. Die Vergleiche aus dem Natur-, Tier- und Pflanzenleben enthalten allerdings eine deutliche Liebessymbolik, wie das bei allen Völkern mehr oder weniger üblich ist. Dazu kommt in Palästina der Einfluss verschiedener Fruchtbarkeits- und Naturkulte heidnischer Nachbarvölker mit ihrer zweideutigen Bildersprache. Dass die Lieder aus solchen Göttermythen oder -hochzeiten hergenommen seien, ist unbewiesen und unwahrscheinlich trotz der Vergleichspunkte, die von der Religionsgeschichte entdeckt wurden und heute meist überbewertet werden. Auch palästinensische Hochzeitsbräuche liefern wenig Anhaltspunkte für unsere Kunstdichtung. In ihrem zusammenhängenden, wörtlichen Sinn sind die Lieder als Verherrlichung bräutlich-ehelicher Liebe auch der Hl. Schrift an sich nicht unwürdig. Das Alte Testament enthält nicht ausschließlich rein religiöse Stoffe. Ist die gesamte Literatur und Geschichte Israels ein Zeugnis für die sittlich religiöse und kulturelle Entwicklung des Bundesvolkes, so hat auch Liebeslyrik darin Platz. Schließlich ist jede echte menschliche Liebe ein Abbild (Typ) der viel höheren Liebe Gottes zu den Menschen und der Menschen zu ihrem Gott. Durch diesen typologischen Sinn wird das Hohelied zu jenem religiösen Buch, das die katholische Kirche in ihren Heiligen und Mystikern besonders eifrig betrachtete. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass schon das vorchristliche Judentum das Hohelied als Umschreibung (Allegorie) für die Liebe Gottes zu seinem Volk auffasste. Propheten wie Hosea, Isaias, Jeremias und Ezechiel haben bereits den Bund mit Gott unter dem Bild der bräutlichen Liebe dargestellt, und in den letzten Jahrhunderten vor Christus schilderten Weisheitslehrer die Liebe zur göttlich-menschlichen Weisheit als Brautverhältnis. Das Christentum hat von Anfang an die allegorische oder wenigstens die typologische Deutung übernommen und den Text auf Gott (Christus)-Kirche oder Gott-Seele oder Christus-Maria übertragen. Ob das Hohelied nur infolge der allegorischen Umdeutung oder wohl eher wegen seiner angeblichen salomonischen Verfasserschaft in den Kanon aufgenommen wurde, bleibt fraglich. Jedenfalls ist hier eine übertragene Auslegung als tieferer Vollsinn anzunehmen und geschichtlich gerechtfertigt. Freilich soll man dann das Thema »Liebe« im ganzen übertragen und nicht jeden einzelnen dichterischen Vergleich phantasievoll auslegen. So berühren sich die nur allegorische, die typologische und die oben erwähnte rein lyrische Deutung. Praktisch muss man sagen, dass unser Buch für körperlich und geistig unreife Menschen nicht geeignet ist.