Hohelied
DAS HOHELIED SALOMONS
Das Hohelied (Lied der Lieder, herrliches Lied) ist seinem Namen nach eine an Wert und Schönheit hervorragende, einzigartige Dichtung. Wenngleich das Lied verschiedene Teile hat, bildet es doch eine Einheit. (Orig.)
Das Hohelied ist weder historisch noch typisch, sondern allegorisch zu verstehen. Nicht historisch von der Liebe zwischen Salomon und der ägyptischen Königstochter, denn ein Liebeslied ohne höhere geistige Bedeutung konnte (um von den Widersprüchen, die alsdann in den Text kämen, zu schweigen) keine Aufnahme in den Kanon finden. Mit Recht verwarf und verurteilte deshalb das V. Ökumenische Konzil eine solche Weise der Erklärung. Auch die typische Auslegung ist nicht zulässig, nach der die historische Wahrheit das Bild und der Schatten neutestamentlicher Wahrheiten sein soll, da u.a. nirgends im Neuen Testamente eine darauf hinzielende Andeutung sich findet. Da nun nach dem einmütigen Zeugnis der Synagoge wie der heiligen Väter im Hohenliede ein tiefer geistiger Inhalt verborgen ist, so ist dieser aus dem Texte allegorisch zu entwickeln. Dass der Buchstabe einen tieferen Sinn vermitteln soll, zeigt u.a. schon der Name der Braut Sulamith, der dem Namen Salomon nachgebildet und also etymologisch zu erklären ist. Das Hohelied steht ferner in klarer Analogie zu [Ps 44], der gleichfalls nur allegorisch zu erklären ist. Steht es aber auch fest, dass das Hohelied eine Allegorie bildet, so ist doch die Auffassung des Sinnes bei den verschiedenen Auslegern eine sehr mannigfaltige gewesen. Die jüdischen Erklärer finden im Hohenliede Gottes Verhältnis zur vorchristlichen Synagoge abgebildet, da Jahves Verhältnis desselben von Seiten der Menschen als Ehebruch dargestellt wird. [2Mos 34,15, 3Mos 20,5, Ez 16,15ff, Hos 2,19.20] u.a. Nach christlicher Anschauung aber erscheint im Hohenliede Gottes Liebe zu der erlösten Menschheit und ihrer reichsten Entfaltung. Mit den heiligen Vätern und fast allen katholische Auslegern ist das Hohelied als Lied der Vermählung Christi mit der Kirche des Neuen Testamentes aufzufassen, welche aus der Wurzel der Synagoge [Jes 60,3ff, [Roem 11,16ff]als neues Jerusalem [Gal 4,23.26.27] hervorgegangen ist. – Dem widerspricht in keiner Weise, dass von Origenes, Gregorius von Nyssa und anderen Vätern das Hohelied auch bisweilen auf die Verbindung jeder heiligen Seele mit Christus oder auf die innigste Vereinigung der heiligen Jungfrau mit ihrem göttlichen Sohne gedeutet wird. Nicht als ob das Hohelied eine dreifache Erklärung zuließe, sondern die Vereinigung Christi mit der Kirche ist das Fundament und Abbild der Vereinigung des Heilandes mit seiner reinsten Mutter und der (minder vollkommenen) Verbindung mit jeder gerechten Seele. (Hl. Bernh.)
Doch worin besteht die Allegorie? Die Allegorie ist fortlaufende, bildliche Darstelung und uneigentlicher Ausdruck in der Erzählung. (So ist z.B. [Mt 22,3-13] Allegorie, V. 2, V. 14 gewöhnliche Redeweise.) Worin die Vergleichungspunkte zweischen dem darzustellenden Gegenstande und dem Bilde bestehen, muss aus den Worten der Erzählung selbst zu entnehmen sein. Demgemäß ist nicht alles, was das Bild hat, auch dem Gegenstande selbst zuzuschreiben. (So wird die Kirche als Frau dargestellt, werden bestimmte Zahlen in der Einkleidung angewendet, manche Züge lediglich zur Ausschmückung des Bildes beigegeben u.a.m.)
Da der Verfasser zuerst den eigentlichen Gedanken, den er darstellen wollte, in seinem Geiste bildete, ehe er ihn in das entsprechende Bild kleidete, hat man aus dem Bilde zu der durch dasselbe gleichsam verhüllten Wahrheit durchzudringen, indem das, was über das Ziel der Darstellung bekannt ist, als Wegweiser der Auslegung dient. Vergl. [Ez 16]
Was hatte Salomon als Ziel vor Augen, als er das Hohelied schrieb? Wollte er eine unbekannte Wahrheit offenbaren oder auf Anregung des Heiligen Geistes eine bereits bekannte poetisch darstellen? Aus dem Hohenliede selbst lässt sich nicht nachweisen, dass dem Verfasser neue und unbekannte Dinge von Gott offenbart wurden. Drei Wahrheiten werden insbesondere dargestellt: der messianische Friede, die alle Völker umfassende Ausdehnung der Kirche und die Vermählung Christi mit der Kirche. Dass das Reich des Messias ein Friedensreich sein werde, wusste Salomon, der selbst der Typus des Friedensfürsten war [1Chr 22,9]; vergl. [Hebr 1,5; Ps 71]; die zukünftige Ausbreitung der göttlichen Theokratie auf alle Völker hatten ihn die Psalmen seines Vaters gelehrt [Ps 2, Ps 109, Ps 21, Ps 17], für das Bild der Ehe hatte er Vorbilder im Alten Testamente. [2Mos 34,15ff; 3Mos 20,5ff]
Bei welcher Gelegenheit Salomon das Hohelied verfasste, steht nicht fest. Ob nach seinem Abfalle, als er sich reumütig zu Gott wendete, um sein Volk zu trösten?
Den göttlichen Ursprung und das kanonische Ansehen des Buches zogen (vor dem ersten Jahrhundert) vorübergehend einige wenige Rabbinen in Zweifel, weil sie in demselben die rein irdische Liebe Salomons dargestellt glaubten. Der gleiche Grund bewegte Theodor von Mopfueste, das Buch zu verwerfen, weil es weder eine Prophezeiung enthalte noch Geschichte wie die Königsbücher noch Unterweisung. In seine Fußstapfen treten die modernen Nationalisten. Dem gegenüber genügt es, das Zeugnis Theodorets (geb. 386) anzuführen: „Alle heiligen Väter haben bezeugt, dass dies Buch in geistigem (allegorischem) Sinne zu verstehen ist.“ Kein Schriftsteller des Altertums (außer Theodor von Mopfueste) hat an dem göttlichen Charakter dieses Buches gezweifelt.