Kategorie:BIBLIA SACRA:Einleitung
Erster Abschnitt
Die Heilige Schrift Gottes Wort.
§1 Die Inspiration
1. In seiner allweisen Vorsehung – sagt Leo XIII1 - hat Gott, der in einem wunderbaren Ratschlusse seiner Liebe das Menschengeschlecht vom Anfang an zur Anteilnahme an der göttlichen Natur erhob und es sodann durch die Erlösung von dem allgemeinen Sündenverderben wieder in die ursprüngliche Würde einsetzte, ihm deshalb auch dieses außerordentliche Schutzmittel verliehen, dass er auf übernatürlichem Wege die Geheimnisse seiner göttlichen Weisheit und Barmherzigkeit kundtat. Diese übernatürliche Offenbarung ist nach dem Glauben der allgemeinen Kirche sowohl in ungeschriebener Überlieferung als auch in geschriebenen Büchern enthalten, die deshalb heilige und kanonische heißen, weil sie unter Eingebung des Heiligen Geistes verfasst, Gott zum Urheber haben und als solche eben der Kirche übergeben worden sind.2
2. Worin besteht nun die Eingebung des Hl. Geistes, die Inspiration? Dieselbe fasst nach gewöhnlicher Erklärung, einen dreifachen Akt in sich: Erstlich eine Erleuchtung des Verstandes, um auf natürliche und übernatürliche Weise den Autor mit den Wahrheiten und Tatsachen bekannt zu machen, die nach Gottes Willen den Inhalt des inspirierten Buches bilden sollen; zweitens eine Anregung des Willens, um den Verfasser zum Schreiben zu bestimmen; endlich den beständigen göttlichen Beistand, der die vollständige und richtige Wiedergabe des gottgewollten Inhaltes gewährleistet.
3. Darf man nun die Eingebung des Heiligen Geistes (Inspiration) auf einige Teile der Heiligen Schrift beschränken oder zugeben, dass der heilige Verfasser eines Buches selbst geirrt habe? So zu handeln, wäre, wie Leo XIII bezeugt, frevelhaft. „Auch das Verfahren jener Männer ist nicht zulässig, fährt er fort, welche ohne Anstand zugeben, dass die göttliche Inspiration sich auf weiter nichts als auf Gegenstände des Glaubens und der Sitten beschränke. Denn die Bücher allesamt und vollständig, welche die Kirche als heilige und kanonische anerkennt, mit allen ihren Teilen sind unter Eingebung des Heiligen Geistes verfasst. Weit entfernt, dass bei der göttlichen Inspiration ein Irrtum unterlaufen könne, schließt sie schon an und für sich nicht bloß jeden Irrtum aus, sondern schließt ihn als verwerflich ebenso notwendig aus, als es notwendig ist, dass Gott, die höchste Wahrheit, überhaupt nicht Urheber eines Irrtums ist. Das ist der alte und beständige Glaube der Kirche.“
4. Aber könnte man nicht sagen, dass der Heilige Geist Menschen als Werkzeug zum Schreiben verwendet hat, dass zwar nicht dem Haupturheber, Gott, wohl aber den inspirierten Verfassern etwas Falsches hat entschlüpfen können? Nein, auch eine solche Möglichkeit ist ausgeschlossen. „Denn der Heilige Geist selbst hat sie durch eine übernatürliche Kraft so zum Schreiben angeregt und bestimmt und dem Verfasser Beistand geleistet, dass sie all das und nur das, was er sie hieß, richtig im Geiste erfassten, getreulich niederschreiben wollten und passend mit unfehlbarer Wahrheit ausdrückten; sonst wäre der Heilige Geist nicht selbst Urheber der gesamten Heiligen Schrift. Diese Lehre haben die heiligen Väter stets als richtig angesehen. „Aus dem Grunde“, sagt Augustinus, „weil die Verfasser niederschrieben, was der Heilige Geist ihnen zeigte und eingab, kann man durchaus nicht sagen, dass er es selbst nicht geschrieben; denn seine Glieder haben das ausgeführt, was sie unter Eingebung des Hauptes erkannt haben.“ Daraus folgt, dass jene, welche meinen, in den echten Stellen der heiligen Bücher könne etwas Falsches enthalten sein, in der Tat entweder den katholischen Inspirationsbegriff verdrehen oder Gott selbst zum Urheber des Irrtums machen. Ja, alle Väter und Lehrer teilten die volle Überzeugung, dass die göttlichen Schriften, wie sie von den heiligen Schriftstellern ausgingen, von jedem Irrtum gänzlich frei seien. Deshalb haben sie sich bemüht, nicht wenige von den Stellen, welche etwas Widersprechendes oder Abweichendes zu enthalten schienen (und das sind ungefähr dieselben, welche man jetzt im Namen der modernen Wissenschaft einwendet) eenso scharfsinnig als verehrungsvoll unter sich zu versöhnen und in Einklang zu bringen. Die Worte, welche Augustinus an Hieronymus schrieb, sollen im Allgemeinen maßgebend sein: „Ich gestehe deiner Liebe, unter allen Büchern sind es einzig die Schriften, welche bereits kanonisch heißen, denen ich eine solche Hochachtung und Verehrung darbringe, dass ich fest glaube, keiner ihrer Verfasser habe beim Schreiben in einem Punkte geirrt. Un wenn ich in diesen Schriften auf etwas stoße, was mit der Wahrheit in Widerspruch zu sein scheint, so schließe ich daraus ohne Anstand nur so viel, dass entweder die Handschrift fehlerhaft ist, oder dass der Übersetzer den Sinn der Worte nicht getroffen, oder dass ich sie gar nicht verstanden habe.“ Wo immer die heiligen Väter von der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift sprechen, lassen sie insgesamt und ohne Ausnahme keinen Zweifel darüber, dass sie keine persönliche Privatansicht vortragen, sondern diese Lehre als zum Bestand des Glaubens gehörig betrachten und als Zeugen für die allgemeine Überlieferung der Kirche darüber sprechen. Apostolischen Ursprungs also ist diese Lehre und zur Offenbarung Christi gehörig. Hat sich also unser Glaube, wie Pius IX.3 bezeugt „nicht auf das zu beschränken, was die allgemeinen Konzilien und die Römischen Päpste durch ihre Dekrete definiert haben, sondern muss er sich auch auf das erstrecken, was durch das gewöhnliche Lehramt der über den ganzen Erdkreis zerstreuten Kirche als göttliche Offenbarung überliefert wird,“ so muss die Lehre von der Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift als eine von jedem katholischen Christen festzuhaltende unzweifelhafte Glaubenswahrheit gelten, wird sie doch von den heiligen Vätern mit ausnahmsloser Einhelligkeit und als eine zur Unterlage des Glaubens (depositum fidei) gehörige Wahrheit bezeichnet.
5. Zum Abschluss des von der Inspiration Gesagten seien noch zwei Fragen angefügt:
- 1. Ist alles, was in der heiligen Schrift berichtet wird, zum Bestand des Glaubens gehörig? Nein, die heiligen Verfasser wollen uns nicht bei allen Teilen ihrer Schriften außer der Tatsache und der Richtigkeit des Berichtes auch den Inhalt des Berichteten als in sich gut verbürgen. Aber dass uns diese Dinge mitgeteilt wurden, ist von Gott gewollt. Mithin ist der gesamte Inhalt der Heiligen Schrift zwar inspiriert, aber nicht alles Inspirierte ist auf gleiche Weise wahr. „Es ist zwar wahr“, sagt der heilige Augustin, „dass alles, was im Evangelium erzählt wird, wirklich gesprochen ist, aber nicht alles, was als gesprochen berichtet wird, ist auch als wahr anzunehmen, bezeugt doch der wahrheitsgetreue Evangelist auch, was die Juden erdichteten und gottlos logen. So wird auch im Buche Job Verschiedenartiges gesagt, so dass man nicht allein auf das Gesagt achten darf, sondern auch fragen muss, wer redet.“ Ähnliches gilt von den schriftlichen Dokumenten, welche die inspirierten Autoren in ihre Bücher übernahmen. So will der Verfasser 1 Machabäer 12,6-23 sicher nicht die Bürgschaft für den Inhalt des Briefes Jonathans an die Spartaner übernehmen und bleibt es [2Mak 1,1-2,19] ebenso wie [Apg 7,2-53] zweifelhaft, ob diesen beiden Stellen untrügliche Wahrheit zuzuschreiben ist.
- 2. Hat der Heilige Geist, indem er die heiligen Verfasser inspirierte, sie in ihren Kenntnissen über ihre Zeitgenossen hinausgehoben? Für natürliche Erkenntnisse war dies nicht notwendig, bedurfte es doch bei geschichtlichen Angaben und anderen profanen Wissensgebieten nur insofern eines besonderen Lichtes für den Verstand des Schriftstellers, dass er beim Schreiben seines Buches vor tatsächlich falschen Angaben, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmten, bewahrt wurde.
Im Übrigen gilt das Wort Leos XIII: „Den Worten der heiligen Bücher liegen infolge der Eingebung des Heiligen Geistes viele Dinge zugrunde, welche die Fassungskraft und Schärfe der menschlichen Vernunft himmelweit übersteigen, nämlich göttliche Geheimnisse und vieles andere, was damit zusammenhängt; ja zuweilen ist ein Gedanke zu umfassend und zu verborgen als dass ihn ein Wort ausdrücken könnte und die Gesetze der Hermeneutik ihn erraten ließen.“ So konnte es denn auch geschehen, dass die Absicht des Heiligen Geistes weiter reichte als die Erkenntnis, welche die heiligen Schriftsteller mit den von ihm offenbarten Worte verbanden, ähnlich wie dies von einer anderen Gndengabe (gratia gratia data), der Gabe der Prophetie, gilt, da nach dem Zeugnis des heiligen Thomas die Propheten nicht alles erkannten, was der Heilige Geist in ihren Gesichten, Worten und Handlungen beabsichtigte.
§ 2. Inspiration und Geschichte.
1. Es ist wohl zuzugestehen, dass die geschichtliche Methode und Darstellung der heiligen Schriftsteller eine der Kunst nach oft unvollkommene ist, aber ebenso fest ist die Wahrheit hochzuhalten, dass zwischen dem Berichte der Heiligen Schrift und dem Tatbestand im Allgemeinen wie in jeder Einzelheit die vollkommenste und genaueste Übereinstimmung besteht. Nichts Falsches wird gesagt. Haben die alten weltlichen Geschichtsschreiber das Gesetz der Wahrheit bei der Geschichte nicht immer so streng verstanden, haben sie es vielmehr mit diesem Gesetz vereinbar gefunden, die Schilderung einer Gegend oder einer Schlacht, oder auch den Text einer Rede in ihre Darstellung einzuflechten, so wurden die heiligen Schriftsteller vor jeder Beimischung falscher Umstände durch die Inspiration bewahrt. In der Tat, wir können uns nach dem einmütigen Zeugnis der heiligen Väter nicht damit begnügen, in der Heiligen Schrift eine solche Übereinstimmung mit der geschichtlichen Wahrheit zu finden, dass der Bericht für die Hauptpunkte voll den Tatsachen zu entsprechen hätte, sondern es muss vielmehr jede Tatsache, wie jeder Umstand, den uns die heiligen Bücher in einer geschichtlichen Darstellung berichten, bis auf die unscheinbarste Kleinigkeit mit den Tatsachen übereinstimmen. Gottes unfehlbare Wahrheit hat ja durch den inspirierten Schriftsteller gesprochen, sie ist Bürge der Wahrhaftigkeit.
2. Damit ist nicht gesagt, dass, wenn zwischen Tatbestand und Darstellung die vollste Übereinstimmung herrscht, die Darstellung von jeder menschlichen Unvollkommenheit frei sei. Sache des Auslegers ist es also nach den sichersten Regeln katholischer Auslegekunst den vom Verfasser gewollten Sinn eines Textes zu bestimmen und die Sache von der Form, den Gedanken und der Ausdrucksweise zu unterscheiden. Sache und Gedanken sind notwendig auf den ersten Urheber und seine Anregung, Erleuchtung und Beihilfe zurückzuführen, ohne dass die menschliche Tätigkeit dabei ausgeschlossen oder beeinträchtigt wird; Form aber und Ausdrucksweise bleiben in der Regel dem menschlichen Werkzeug überlassen, ohne dass die Mitwirkung des Heiligen Geistes ausgeschlossen ist. Nur eine solche Unvollkommenheit kann also angenommen und zugelassen werden, welche mit dem passenden Ausdruck der unfehlbaren Wahrheit vereinbar ist.
3. Aber waren die heiligen Schriftsteller nicht Kinder ihrer Zeit? Beschränkte sich ihr geschichtliches Wissen nicht auf das ihrer Zeitgenossen? Gilt dies nicht besonders für die Geschichte der Schöpfung? Antwort: Wenn wir die ganze Kirchengeschichte durchgehen, finden wir von den Tagen Christi uns der Apostel an den beständigen Glauben der Kirche, gegen den sich nie ein Zweifel erhoben hat, dass die Erzählung im ersten Buche der Heiligen Schrift geschichtliche Tatsachen enthält. Die wahre Geschichte der Erschaffung der Welt (ohne dass hier in die Spezialfrage über die Dauer der Tage usw. eingegangen wird) und der ersten Schicksale des Menschengeschlechtes hatte also Gott durch eine besondere Fürsorge seiner Vorsehung in unverfälschter Wahrheit der Nachwelt erhalten. Mag es also bei einem nichtinspirierten Verfasser geschehen, dass er Sagen für Geschichte hält und sein Geschichtswerk mit deren Wiedergabe beginnt, der Bericht Moses ist so wenig eine bloße Legende wie seine Erzählung von den Schicksalen der Patriarchen und des auserwählten Volkes.
4. Die gleiche Irrtumsfreiheit eignet allen geschichtlichen Berichten der Heiligen Schrift, ohne dass die Verfasser damit in ihrem Wissen über ihre Zeitgenossen hinausgehoben werden müssten. Die Inspiration ist eine Gnadengabe (gratia gratis data), welche den Empfänger an sich weder frömmer macht als seine Umgebung noch auch gelehrter als seine Zeitgenossen. Aber wenn auch der Schriftsteller nicht durch die Inspiration einer Äderung unterworfen wird in dem, was er im Allgemeinen denkt und weiß, so übt die Eingebung Gottes doch ihren Einfluss aus auf das, was er in der inspirierten Schrift sagt. Die Inspiration besteht nach Leo XIII. darin, dass „der Heilige Geist die inspirierten Verfasser so zum Schreiben anregt und bestimmt und den Verfassern so mit seinem Beistand zur Seite steht, dass sie alles das und nur das, was er sie heißt, richtig im Geiste erfassen, getreulich niederschreiben wollen und passend mit unfehlbarer Wahrheit ausdrücken; sonst wäre der Heilige Geist nicht selbst Urheber der gesamten heiligen Schrift.“
5. „Aber“, wendet man ein, „sind die Quellen, auf welche sich die Verfasser der heiligen Bücher stützten, durchaus und in allem zuverlässig? Hat nicht bisweilen ein Verfasser es an der nötigen Kritik bei der Herübernahme fehlen lassen? Oder kann man nicht etwa auch annehmen, die Verfasser haben ihre Berichte den Quellen so entlehnt, dass sie das Urteil über die Richtigkeit der Angaben suspendierten?“
Beide Möglichkeiten sind ausgeschlossen. Bei den geschichtlichen Angaben und Mitteilungen, welche die heiligen Verfasser aus profanen Schriftstellern entlehnten, bedurfte es freilich eines besonderen Lichtes für den Verstand des heiligen Verfassers, dass er beim Schreiben seines Buches vor tatsächlich falschen Angaben, die mit der Wahrheit nicht übereinstimmten, bewahrt blieb. Dies war Sache des Beistandes des Heiligen Geistes. Die zweite Hypothese widerspricht der unbedingten Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift. „Jene, welche meinen, in den echten Stellen der heiligen Bücher könne etwas Falsches sein, verdrehen entweder den katholischen Inspirationsbegriff oder machen Gott selbst zum Urheber des Irrtums. Ja, alle Väter und Lehrer teilen die volle Überzeugung, dass die göttlichen Schriften, wie sie von den heiligen Schriftstellern ausgingen, von jedem Irrtum gänzlich frei seien.“ (Leo XIII.)
6. Die heilige Geschichte und die profane Wissenschaft. „Es ist beklagenswert, dass viele von den Männern, welche die Denkmäler des Altertums, die Sitten und Einrichtungen der Völker und die Zeugnisse ähnlicher Art um den Preis großer Anstrengungen durchforschen und zu Tage fördern, dies öfter in der Absicht tun, um einen Makel des Irrtums in den heiligen Büchern zu entdecken und dadurch ihr Ansehen in jeder Richtung zu schwächen und zu erschüttern. Manche verfahren hierbei in allzu feindseliger Gesinnung und ohne die nötige Unparteilichkeit. Sie setzen auf weltliche Schriften und geschichtliche Denkmäler der alten Zeiten ein solches Vertrauen, als ob bei ihnen nicht einmal der Verdacht eines Irrtums vorhanden sein könne; bei den Büchern der Heiligen Schrift aber genügt ihnen ein bloß vermeintlicher und scheinbarer Irrtum, um ihnen ohne gehörige Prüfung allen Glauben zu versagen. Allerdings ist es möglich, dass die Kopisten beim Abschreiben der Handschriften manchen Verstoß begingen, aber diese Schlussfolgerung ist nur nach reichlicher Prüfung und nur für solche Stellen statthaft, für welche der Fehler gehörig nachgewiesen ist. Auch kann es vorkommen, dass der echte Sinn einer Stelle zweifelhaft bleibt, aber dann werden für dessen Enträtselung die besten Regeln der Auslegung gute Dienste leisten. Doch bei alledem wäre es durchaus frevelhaft, die Inspiration nur auf einige Teile der Heiligen Schrift zu beschränken oder zuzugeben, dass der heilige Verfasser selbst geirrt hat, denn auch das Verfahren jener Männer ist nicht zulässig, welche diese Schwierigkeiten durch überwinden, indem sie ohne Anstand zugeben, dass die göttliche Inspiration sich auf weiter nichts, als auf Gegenstände des Glaubens und der Sitten beschränke. Denn die Bücher allesamt und vollständig, welche die Kirche als heilige und kanonische anerkennt, mit all ihren Teilen, sind unter Eingebung des Heiligen Geistes verfasst.“
§ 3. Inspiration und Naturwissenschaft.
Die naturwissenschaftliche Auffassung der heiligen Schriftsteller bei der Beobachtung von Vorgängen in der Natur haftet nur an dem, was die Sinne wahrnehmen, am Augenschein. Dieser ist es, der in unserer Sprache zum Ausdruck kommt, wenn wir sagen: Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter. Freilich ist die Wissenschaft nicht bei dem stehen geblieben, was den Sinnen erscheint, aber auch die Gelehrten müssen, wenn sie sich dem Volke verständlich machen wollen, sich an den gewöhnlichen Sprachgebrauch halten. „Es ist in Erwägung zu ziehen, dass die heiligen Schriftsteller oder richtiger der Geist, welcher durch sie redete, nicht beabsichtigt hat, den Menschen über das innerste Wesen der augenfälligen Dinge Belehrungen zu geben, da solche niemand zum Heile nützen sollten, dass sie daher, statt direkt Naturforschung zu betreiben, die Dinge manchmal auf bildliche Weise beschreiben und behandeln, oder auch so, wie es die vulgäre Ausdrucksweise in jener Zeit mit sich brachte, die noch jetzt bei vielen Dingen im alltäglichen Leben selbst unter den größten Gelehrten im Gebrauch ist. Da aber die Volkssprache die sinnfälligen Dinge anfänglich im eigentlichen Sinne ausdrückt, hat der heilige Schriftsteller in ähnlicher Weise nach der sinnlichen Erscheinungsform berichtet oder das mitgeteilt, was Gott selbst zu den Menschen redend, nach ihrer Fassungskraft und nach menschlichem Sprachgebrauch ausgedrückt hat.“
Welche Auslegung ist aber den naturwissenschaftlichen Dingen zu geben? „Wenn auch die Verteidigung der Heiligen Schrift mit Ernst zu betreiben ist“, belehrt uns Leo XIII. weiter, „so folgt daraus nicht, dass alle Ansichten auf gleiche Weise aufrecht erhalten werden sollen, welche jeder einzelne heilige Vater oder die nachfolgenden Ausleger bei ihrer Erklärung ausgesprochen haben. Den diese haben je nach den Anschauungen ihrer Zeit geurteilt und bei Erörterung von Stellen, wo physische Dinge in Frage kommen, vielleicht nicht immer das Richtige getroffen, so zwar, dass sie manches als sicher aufstellten, was jetzt weniger Beifall finden könnte.4 Daher muss man bei ihren Auslegungen sorgfältig unterscheiden, was sie als wirklich zum Glauben gehörig oder engstens mit ihm verbunden vortragen und was sie in einmütiger Übereinstimmung lehren. Denn in Dingen, die nicht notwendig zum Glauben gehören, durften die Heiligen, so wie auch wir, verschiedener Ansicht sein. Das ist ein Satz des heiligen Thomas, der auch an anderer Stelle die überaus kluge Bemerkung macht: „Mir scheint es sicherer zu sein, derartige Lehren, welche die Philosophen allgemein annehmen und die unserem Glauben nicht widersprechen, weder so zu behaupten, wie Glaubensätze noch auch als glaubenswidrig zu verneinen, um nicht den Weisen dieser Welt Anlass zu bieten, die Glaubenslehre zu verachten. Obwohl demgemäß der Ausleger zeigen muss, dass das, was die Naturforscher durch sichere Beweise bereits als sicheres Ergebnis aufgestellt haben, der richtigen Schrifterklärung nicht widerstreite, so darf er doch nicht vergessen, dass es bisweilen vorkam, dass manches als sicheres Ergebnis von ihnen Vorgetragene hernach in Zweifel gezogen und verworfen worden ist. Sollten daher die Physiker die Grenzen ihres Faches überschreiten und sich mit verkehrten Aufstellungen auf das Gebiet der Philosophen werfen, so soll sie der Ausleger als Theologe zur Widerlegung an die Philosophen verweisen.“
§ 4. Rechte Auslegung des Wortes Gottes.
1. „Es ist nicht zu verkennen, dass die heiligen Bücher in ein gewisses religiöses Dunkel eingehüllt sind, so dass man zu ihnen nur unter Führung eines Wegweisers vordringen kann. Dieses aber geschah durch göttliche Fügung (das ist nämlich die allverbreitete Ansicht der heiligen Väter), damit man sie mit größerem Verlangen und Eifer durchforsche und die daraus mit Mühe entnommenen Dinge tiefer in Geist und Herz einpräge. Insbesondere aber sollten wir dadurch inne werden, dass Gott der Kirche die Schriften übergeben hat, damit wir uns ihrer als der zuverlässigsten Führerin und Lehrerin bei der Lesung und Erklärung seiner göttlichen Aussprüche bedienen. Dass da, wo die Gnadengaben des Herrn hinterlegt sind, die Wahrheit zu lernen ist und dass von jenen, bei welchen sich die apostolische Amtsnachfolge findet, die Schriften ohne Gefahr ausgelegt werden, das hat schon der heilige Irenäus gelehrt und mit ihm die übrigen Väter.“
„Ihre Lehre ist es, welche das Vatikanische Konzil aufgenommen hat, als es unter Erneuerung des Dekretes des Trienter Konzils über die Auslegung des geschriebenen Wortes Gottes erklärte, das sei der Gedanke desselben, dass in Sachen des Glaubens und der Sitten, welche zum Gebäude der christlichen Lehre gehören, als der wahre Sinn der heiligen Schrift jener zu gelten habe, welchen unsere heilige Mutter die Kirche festgehalten hat und festhält; denn ihr steht es zu, über den wahren Sinn und die Auslegung der heiligen Schriften zu urteilen; und dass es deshalb niemand erlaubt sei, die Heilige Schrift im Widerspruch mit diesem Sinn oder auch mit der einmütigen Übereinstimmung der Väter zu erklären.“
„Durch dieses Gesetz voll Weisheit hemmt und schränkt die Kirche keineswegs die wissenschaftliche Bibelforschung ein, sondern stellt sie vielmehr vor Irrtum sicher und fördert im hohen Grade ihren wahren Fortschritt. Denn jedem einzelnen Gelehrten ist ein weites Feld eröffnet, auf welchem er seinen persönlichen Eifer im Auslegungsgeschäft mit sicheren Schritten betätigen und einen ruhmvollen Wettstreit zum Nutzen der Kirche bestehen kann. Bei Stellen der Heiligen Schrift nämlich, welche noch auf eine sichere und bestimmte Erklärung harren, kann es nach einem gütigen Ratschluss der göttlichen Vorsehung dahin gebracht werden, dass durch den voraus betätigten Eifer der Gelehrten die Entscheidung der Kirche rascher zur Reife kommt. Bei den bereits bestimmt erklärten Stellen aber kann ein einzelner Lehrer gleichen Nutzen stiften, wenn er dieselben deutlicher und schlicht vor dem gläubigen Volke und scharfsinniger vor den Gelehrten entwickelt oder sie glänzender und siegreich gegen die Widersacher verficht.“
„In Anbetracht dieser Gründe soll es für den katholischen Ausleger als vornehmste und heiligste Aufgabe gelten, jene Zeugnisse der Schrift, deren Sinn bereits authentisch erklärt ist, selbst in derselben Art auszulegen, mag jene Erklärung durch die heiligen Verfasser unter Inspiration des Heiligen Geistes gegeben sein, wie es in vielen Stellen des Neuen Testamentes der Fall ist, oder unter dem Beistande desselben Heiligen Geistes durch die Kirche, sei es in Form eines feierlichen Urteils, sei es durch das ordentliche und allgemeine Lehramt; ja, er soll durch die Hilfsmittel seines Faches unwiderleglich dartun, dass dies die einzige Erklärung ist, die sich nach dem Gesetze der gesunden Hermeneutik als richtig beweisen lässt. Im Übrigen muss er der Glaubensanalogie folgen und die katholische Lehre so, wie man sie von der Autorität der Kirche überkommen hat, als oberste Richtschnur anwenden. Denn da Gott zugleich der Urheber der heiligen Bücher und der in der Kirche hinterlegten Lehre ist, kann es in der Tat nicht vorkommen, dass aus jenen durch regelrechte Auslegung ein Sinn gewonnen werde, der mit dieser Lehre irgendwie nicht im Einklange steht. Daraus geht klar hervor, dass jene Auslegung als widersinnig und falsch zu verwerfen ist, welche die inspirierten Schriftsteller gewissermaßen in gegenseitigen Widerspruch bringt oder der Kirchenlehre widerspricht.“
2. Was die heiligen Väter betrifft, „so ist ihr Ansehen in jenen Fällen von entscheidendem Gewicht, wenn sie sämtlich irgend eine Bibelstelle, sofern diese die Glaubens- und Sittenlehre betrifft, in ein und derselben Weise erklären. Denn gerade aus ihrer Einmütigkeit geht unzweideutig hervor, dass dies nach katholischem Glauben eine von den Aposteln stammende Tradition ist. Die Ansicht derselben Väter ist aber selbst dann hochzuschätzen, wenn sie bezüglich dieses Gegenstandes als Gelehrte ihre persönliche Meinung vortragen. In der Tat empfiehlt sie nämlich im hohen Grade nicht bloß die Wissenschaft der Offenbarungslehre und die Kenntnis vieler Dinge, die zum Verständnis der apostolischen Schriften nötig sind, sondern Gott selbst hat sie als Männer, hervorragend durch Heiligkeit des Lebens und Eifer für die Wahrheit reichlich mit dem Beistand seines Lichtes unterstützt. Deshalb wird es ein Ausleger als seine Pflicht ansehen, in ihre Fußstapfen mit Ehrfurcht einzutreten und ihre Arbeiten mit verständiger Auswahl zu benützen. Doch soll er deshalb nicht wähnen, dass ihm der Weg verlegt sei, in der Forschung und Erklärung, wo eine gerechte Ursache ist, noch weiter zu gehen, wenn er der von Augustinus wohlweislich gegebenen Vorschrift gewissenhaft nachkommt, dass man nämlich von dem Literalsinn, der sich gewissermaßen aufdrängt, keineswegs abgehen dürfe, sofern nicht ein Vernunftsgrund sein Festhalten hindert oder nicht zwingende Notwendigkeit vorliegt, ihn preiszugeben.“
3. „Was die übrigen katholischen Ausleger angeht, so haben sie zwar ein geringeres Ansehen. Weil jedoch die biblischen Studien in der Kirche einen ununterbrochenen Fortschritt nahmen, ist in gleicher Weise auch ihren Kommentaren die gebührende Beobachtung zu schenken, da sich aus ihnen füglich mancherlei erkennen lässt, um entgegengesetzte Ansichten zu widerlegen und schwierige Punkte aufzuhellen.“
4. „Aber ein großer Unfug ist es, mit Verkennung und Missachtung der vortrefflichen und zahlreichen Werke, welche unsere Exegeten hinterlassen haben, die Bücher der Andersgläubigen zu bevorzugen und bei ihnen mit augenscheinlicher Gefahr für die gesunde Lehre und nicht selten zur Schädigung des Glaubens die Erklärung von Stellen zu suchen, auf welche die Katholiken längst ihren Scharfsinn und ihre Bemühungen mit dem besten Erfolge verwendet haben. Wenn auch der katholische Ausleger durch kluge Beiziehung der Studien Andersgläubiger zuweilen Beihilfe finden kann, so soll er doch bedenken, wie auch die alten Schriftsteller häufig bezeugen, dass sich der unverfälschte Sinn der heiligen Schriften keineswegs außerhalb der Kirche finde und von jenen nicht übermittelt werden könne, welche, des wahren Glaubens bar, bei der Schrift nicht den Kern treffen, sondern nur die Rinde benagen.“
5. Schlusswort „Die Gelehrten sollen treulich festhalten, dass Gott, der Schöpfer und Regierer des Weltalls, auch der Urheber aller Schriften ist, dass sich deshalb aus der natürlichen Beschaffenheit der Dinge oder aus den geschichtlichen Denkmälern kein Resultat ergeben könne, das mit den Schriften wahrhaft in Widerspruch steht. Wenn sich also ein Widerspruch zu finden scheint, ist er mit allem Fleiße zu beseitigen, sowohl durch Beiziehung des klugen Urteils der Theologen und Ausleger, was der richtigere und wahrscheinlichere Sinn der fraglichen Schriftsteller sei, als auch durch sorgfältigere Abwägung der Kraft der dagegen beigebrachten Beweisgründe. Doch darf man aus dem Grunde den Eifer nicht aufgeben, wenn nachher noch ein Schein für das Gegenteil zurückbleibt. Denn weil die Wahrheit der Wahrheit keineswegs widerstreiten kann, hat man als gewiss festzuhalten, dass sich entweder in der Auslegung der heiligen Worte oder in den anderen Teilen des Streitpunktes ein Irrtum eingeschlichen habe. Wenn aber auch dann keines von beiden zur Genüge klar ist, muss man unterdessen die Entscheidung aussetzen. Denn sehr vieles wurde aus den Wissensgebieten jeder Art lange Zeit und häufig gegen die Schrift vorgebracht, was jetzt als unbegründet ganz der Vergessenheit verfallen ist. In gleicher Weise wurden über gewisse Stellen der Schrift, die nicht direkt zur Glaubens- und Sittenlehre gehören, ehedem nicht wenige Erklärungen vorgetragen, worin später eine schärfere Untersuchung richtiger gesehen hat. Denn die Gebilde der Meinungen zerstört der Tag, aber die Wahrheit bleibt und gewinnt an Stärke auf ewig. Wie daher sich niemand anmaßen soll, dass er die ganze Schrift recht verstehe, von welcher der hl. Augustin bekennt, dass das, was er nicht wisse, mehr sei, als was er wisse, so soll ein jeder, wenn etwas vorkommt, was zur Erklärung allzu schwer ist, jene Vorsicht und Mäßigung desselben Lehrers anwenden: „Besser ist es unter unbekannte, aber nützliche Zeichen sich zu beugen als durch ihre müßige Auslegung den Nacken dem Joche der Botmäßigkeit zu entziehen und in die Schlinge des Irrtums zu verstricken.“
Zweiter Abschnitt
Die Sammlung der heiligen Schriften.
Die Heilige Schrift heißt heilig, weil sie vom Heiligen Geist eingegeben ist, Heiliges enthält und heiligt, sagt der heilige Thomas. Die Sammlung der heiligen Bücher heißt auch Kanon, Richtschnur. Nannten die alten Väter im Gegensatz zu den eigenwilligen Meinungen der Häretiker die von den Aposteln überlieferte Lehre Kanon der Überlieferung, der Wahrheit usw., so wurde der Name mit Leichtigkeit auf die Bücher übertragen, welche, wie der heilige Athanasius sagt, „Quellen des Heiles sind, in denen allein die Lehre der Frömmigkeit verkündet wird.“ Zur Zeit des heiligen Hieronymus und Augustinus ward der Name Kanon von den Lateinern zur Bezeichnung der Bücher gebraucht, welche öffentlich in den gottesdienstlichen Versammlungen als heilige und von Gott eingegebene vorgelesen wurden. Erst jüngere Väter bedienen sich des Wortes Kanon in der Bedeutung: Verzeichnis jener Heiligen Schriften.
Die Heilige Schrift wird in das Alte und das Neue Testament unterschieden, wie seit Tertullian die heiligen Väter das entsprechende griechische Wort wiedergaben. Die Bücher beider Testamente, besonders aber des Alten, werden auch in protokanonische und deuterokanonische unterschieden, insofern die Zeit verschieden war, in welcher die einzelnen Schriften allgemein in der Kirche als göttliche anerkannt wurden. Protokanonisch heißen demnach diejenigen, welche zuerst in das Verzeichnis heiliger Schriften aufgenommen wurden, deuterokanonisch diejenigen, über welche eine Zeitlang in einigen Partikularkirchen Zweifel herrschten, die aber nach genauer Untersuchung des Tatbestandes von der Gesamtkirche als den ersten gleichwertig anerkannt wurden. Zu den deuterokanonischen Schriften des Alten Testamentes gehören: Tobias, Judith, Weisheit Salomons, Jesus Sirach, Baruch und der Brief des Jeremias, die beiden Bücher der Machabäer, einige Teile der Bücher Esther (Vulg. [Est 10,4-16,24]) und Daniel (Vulg. [Dan 3,24-90; Dan 13; Dan 14]). Deuterokanonische Schriften des Neuen Testamentes heißen sechs Briefe: Der Brief an die Hebräer, der Brief des hl. Jakobus, 2. Petrus Brief, 2. Und 3. Brief des hl. Johannes, Brief des Judas und die Offenbarung des heiligen Johannes, dazu einige Teile der Evangelien ([Mk 16,9-20, Lk 22,43.44, [Joh 8,8-12]). Die Protestanten nennen weniger passend die deuterokanonischen Bücher des Alten Testamentes Apokryphen, die Bücher, welche wir als apokryphe bezeichnen, Pseudepigraphen.
A. Der alttestamentliche Kanon.
2. Nach dem Kanon des Tridentiner Konzils zählt das Alte Testament 44 bzw. (wenn man die Klagelieder und Baruch von Jeremia trennt) 46 Bücher, während das Neue Testament 27 Bücher umfasst. Die modernen Juden, denen die Protestanten folgen, erkennen die deuterokanonischen Schriften des A.B. nicht an und haben somit nur 39 Bücher, die sie freilich nach dem hebräischen Alphabeth zu 22 oder 27 oder nach dem griechischen zu 24 in der Zählung vereinigen.
In unserem Kanon, den das Tridentiner Konzil aufgestellt hat, sind die Schriften teils nach der Zeit ihrer Abfassung, teils nach dem Inhalte geordnet. Die erste Stelle nehmen im Alten Testament die historischen Bücher ein, mit Ausnahme der Bücher der Machabäer, die als zuletzt verfasste Schriften das Alte Testament beschließen. Die geschichtlichen Bücher folgen einander zumeist nach der Folge der Zeit, die sie darstellten, so indes, dass die drei Bücher, welche gewisse Einzeltatsachen behandeln, hinter die übrigen gestellt sind. Auf die geschichtlichen folgen die Lehrbücher in der Reihenfolge, wie ihre Verfasser vermutlich gelebt haben. An dritter Stelle folgen die großen Propheten und auf diese die kleinen, je nach der Zeit ihrer Abfassung. In ähnlicher Weise nehmen im Neuen Testamente die historischen Bücher, welche das Leben des Heilandes darstellten, die erste Stelle ein, unter sich nach der Zeit ihrer Abfassung geordnet; den Evangelisten schließt sich die Apostelgeschichte, welche die Schicksale der ersten Kirche berichtet, an. Auf die geschichtlichen Bücher folgen die Lehrbücher: die Briefe des heiligen Paulus und die katholischen Briefe, den Schluss des Neuen Testamentes bildet die Offenbarung des heiligen Johannes. – Diese Ordnung ist indes keine althergebrachte, da die Handschriften eine große Mannigfaltigkeit in der Anordnung zeigen.
Die protokanonischen Bücher des Alten Testamentes wurden vor alters in Gesetz, Propheten und Heilige Schriften geteilt (vergl. Prolog des Buches Sirach), wie das Neue Testament zeigt. ([Lk 24,44]). Die hl. Väter erwähnen diese Teilung bisweilen, die Juden halten heute noch daran fest.
3. Der Anfang einer Sammlung der heiligen Bücher wurde bei den Juden schon unter Josue gemacht, indem zu den fünf Büchern Moses eine neue heilige Urkunde, das Buch Josue, hinzukam. ([Jos 24,26]) Der erste Tempel enthielt, wie mit großer Sicherheit anzunehmen ist, bereits eine Sammlung der damals schon verfassten Heiligen Schriften. Daniel führte bereits die prophetischen Schriften als zur Sammlung der heiligen Bücher gehörig an (9,2) und in der Zeit der Machabäer wurden auch die didaktischen Bücher als heilig angesehen, wie [1Mak 12,9] zeigt. Der heutige Kanon der Juden, der von den Palästinischen Juden aufgestellt und festgehalten ward, fand zur Zeit des Esdras und Nehemias seinen Abschluss. Wollte aber Esdras mit seiner Sammlung den Kanon auf immer abschließen? Dafür lässt sich kein Zeugnis anführen. In Alexandria fügten die Juden dem alten Kanon neue Schriften als kanonisch bei, während die palästinischen Juden diese neuen Bücher nur als heilig, nicht als kanonisch ansahen. Als die Christen im Kampfe gegen die Juden die griechische Übersetzung der Septuaginta, welche die neuen Bücher enthielt, häufiger anführten, verwarfen um die Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Chr. die Juden diese Übertragung selbst.
4. Nirgends im Neuen Testamente wird ein Verzeichnis der Bücher des Alten Testamentes geboten und ebenso wenig werden von den Aposteln und Evangelisten alle Schriften des Alten Testamentes angeführt. Doch da der Herr oftmals auf die Schrift oder auf die Schriften verweist (mit Artikel), eine allen bekannte und von allen zugelassene Sammlung ([Joh 5,36ff]), das Gesetz Moses, die Propheten und die Psalmen ([Lk 24,27.44]), welche Sammlung hat er vor Augen, deren Autorität niemand zu widersprechen wagen darf? Nicht jene, deren auch in der Apostelgeschichte ([Apg 17,2.11] und [Apg 18,24-28]) Erwähnung geschieht? Nun wohl, dies war der umfangreichere, alexandrinische Kanon, der neben den protokanonischen auch die deuterokanonischen Bücher enthielt, diese haben die Apostel gebraucht und den von ihnen gegründeten Kirchen überliefert. Die Apostel entlehnen bei ihren Anführungen aus dem Alten Testamente meist ihre Texte aus der Septuaginta, auch bei solchen Gelegenheiten, wo der hebräische Text weniger in ihre Beweisführung passen würde. Unter etwa 350 Anführungen des Alten Testamentes im Neuen Testament stimmen mehr als 300 der Art mit der Alexandrinischen Übersetzung überein, dass nur sie den heiligen Schriftstellern vor Augen stehen konnte. Der hl. Petrus, Jakobus, Markus, Lukas und der Verfasser des Hebräerbriefes folgen immer, der heilige Paulus fast immer, der hl. Johannes und Matthäus zumeist der griechischen Lesweise. Nun enthielt aber die Alexandrinische Übersetzung die deuterokanonischen Bücher; wenn also die Apostel seitdem die Septuaginta gebrauchten und anführten, so hießen sie diese Sammlung in ihrer Gesamtheit gut, wenn sie von den Heiligen Schriften im Allgemeinen sprechen und auf diese verweisen.
Diesen Text mit seinem ganzen Inhalte hat die Kirche von den Aposteln überkommen und durfte ihn also nicht aufgeben, wollte sie die Lehre der Apostel bewahren. Dass die Kirche von Anfang an alle Bücher des Alten Testamentes, auch die deuterokanonischen, anerkannte, ersieht man aus den bildlichen Darstellungen in den Katakomben. Viele Bilder sind dem Alten Testamente und ganz besonders den deuterokanonischen Schriften entlehnt, wie die Bilder der Susanna, der Jünglinge im Feuerofen, des Tobias, der sieben machabäischen Brüder. Es erhellt ferner aus den Streitigkeiten zwischen Rechtgläubigen und Irrlehrern, in denen beiderseits Anführungen aus den deuterokanonischen Schriften vorgebracht und angenommen wurden. Das Konzil von Nizäa (325) führt das Buch Judith als kanonisch an. Dem entsprach auch der Gebrauch in der gesamten Kirche, deren Väter und Schriftsteller die deuterokanonischen als vom gleichen Ansehen wie die protokanonischen behandeln. So führt schon Polykarp das Buch Tobias an. Hippolytus von Rom kommentiert das Buch Daniel mit den deuterokanonischen Stücken, Ambrosius führt Stellen aus dem Buche Jesus Sirach und dem Buche der Weisheit an und nennt diese Bücher Scripturæ, ebenso wendet Klemens von Alexandrien mit Vorliebe Stellen aus den deuterokanonischen Büchern an. Auf die Frage, warum die Geschichte von Susanna sich in den Schriften der Juden nicht finde, antwortet Origenes: „Nicht auf das, was die Juden überliefern und fabeln, haben wir zu hören, sondern das muss uns als wahr gelten, was in der Heiligen Schrift, wie sie in der Septuaginta vorliegt, sich findet, denn dies ist durch das Ansehen der Apostel bestätigt.“
5. Wenngleich aber in den ersten drei Jahrhunderten kein einziger heiliger Vater sich findet, der den palästinischen Kanon zugelassen hätte, wollten doch im vierten Jahrhunderte und im Beginn des fünften einige Väter aus besonderen Gründen den deuterokanonischen Schriften nur Wert zur Erbauung, aber nicht Beweiskraft für die Dogmen zuerkennen. Keiner derselben5 stellt indes den (protestantischen) Grundsatz auf: Nur was die Juden für wahr gehalten, könne auch von uns angenommen werden; ja noch mehr, alle ohne Ausnahme (auch Hieronymus) behandeln in der Praxis die deuterokanonischen Bücher wie die protokanonischen, da sie in ihren Schriften, auch in den dogmatischen, polemischen und wissenschaftlichen die deuterokanonischen Bücher als göttliche und kanonische anführen, welches auch sonst in der Theorie ihre Meinung war. Zudem zählen ja gerade in dieser Zeitepoche wohl die Väter von Nizäa die deuterokanonischen den protokanonischen als göttlich bei, jedenfalls tun es die drei afrikanischen Konzilien zu Hippo 393 und zu Karthago 397 und 419, ebenso hält der heil. Augustin an den Kanon der alten Kirche fest. So geschah es denn, dass im vierten und fünften Jahrhundert jeder Zweifel durch die feierlichen Aussprüche der Konzilien, die Dekrete der Päpste und die Aufzählung der Bücher seitens gewisser heiliger Väter zerstreut und durch die allgemeine Praxis der Gesamtkirche jener Kanon gutgeheißen ward, den die Väter der ersten drei Jahrhunderte ohne Ausnahme festgehalten und überliefert hatten.
Indes das Ansehen des heil. Hieronymus machte auch im Mittelalter einige Lehrer in diesem Punkte schwankend, die Protestanten aber leugneten die Göttlichkeit der deuterokanonischen Schriften; so musste denn das kirchliche Lehramt mit seiner höchsten Autorität den Kanon der Heiligen Schriften feststellen. Dies geschah durch das Konzil von Trient: „Wer diese Bücher ganz mit all ihren Teilen, wie sie in der katholischen Kirche gelesen zu werden pflegen und in der alten gangbaren lateinischen Ausgabe (vulgata editio) enthalten sind, nicht annimmt, er sei im Banne.“6
Allen Unterscheidungen und Ausflüchten, die etwa noch gegen diese Bestimmung des Tridentiner Konzils möglich waren, machte das Vatikanische Konzil ein Ende: „Wenn jemand die Bücher der Heiligen Schrift nicht vollständig mit all ihren Teilen, wie die Heilige Synode von Trient dieselben aufgezählt hat, als heilige und kanonische annimmt oder leugnet, dass sie unter göttlicher Eingebung abgefasst seien, so sei er im Banne.“
B. Der neutestamentliche Kanon.
6. Der Heiland hatte in den drei Jahren seines Erdenwandels, welche er der Lehrtätigkeit widmete, die Geheimnisse der göttlichen Wahrheiten nur von Mund zu Mund gelehrt und seine Sendung durch Wunder bekräftigt. Durch die Predigt des Evangeliums sollten auch die Apostel sein Werk fortsetzen, das, was sie ins Ohr gehört, auf den Dächern verkünden. Wenn auch der Heiland nicht verbot, dass seine Jünger einiges aus seinem Leben und seiner Lehre je nach Bedürfnis der Zeit und der Umstände niederschrieben, so wählte er doch als den gewöhnlichen Weg zur Ausbreitung des Reiches Gottes, d.i. zur Verkündigung, Annahme und Erhaltung des Evangeliums, die mündliche Verkündigung und Überlieferung. „Wenn die Apostel uns auch keine Schriften hinterlassen hätten“, sagt deshalb schon der hl. Irenäus, „mussten wir nicht der Ordnung der Überlieferung folgen, die jene uns übermittelt, denen sie die Kirchen anvertrauten? Dieser Weise den Glauben zu überliefern sind viele unter den Barbaren gefolgt, jene, welche an Christus glauben, die ohne Tinte und Papier das Heil in ihren Herzen haben, die alte Überlieferung treu wahren“ usw. In seiner herrlichen Schrift „Rechtseinwände gegen die Häretiker“ zeigt Tertullian, dass nicht die Schrift, sondern die Kirche, jene Kirche, die von den Aposteln sich herleitet, die wahre Richtschnur des Glaubens ist. „Also darf man sich nicht auf die Schriften berufen, nicht um sie kämpfen, da hierin der Sieg nichtig und ungewiss oder so gut wie ungewiss ist, vielmehr ist darum zu streiten, wem der Glaube selbst zukommt, und von wem und durch wen und wann und wem die Disziplin überliefert ist, durch die sie Christen wurden. Denn da wo sich die Wahrheit der Disziplin und des christlichen Glaubens zeigt, dort ist auch die Wahrheit der Schriften und der Auslegung und aller christlichen Überlieferungen.“ Wenngleich aber der gewöhnliche Weg das Evangelium zu verbreiten die mündliche Predigt war, wie die Worte des Herrn, das Verhalten der Apostel und die Lehre der Väter zeigt, so war dennoch den Aposteln auch die Freiheit gelassen, das Leben des Herrn und seine Lehren schriftlich aufzuzeichnen. A, noch mehr, da der Glaube für alle Menschen der einzige Weg zum Heil ist, wollte Gott doch wohl, dass die Jünger alle Mittel, welche zur Ausbreitung, Förderung und Erhaltung desselben geeignet schienen, mit Sorgfalt in Anwendung brachten. Und der, der verheißen, dass er bei ihnen sein werde bis ans Ende der Zeiten, stand ihnen auch bei, als sie seine Lehre dem Papier anvertrauten, damit die von den Aposteln verkündeten Wahrheiten leichter und sicherer festgehalten, Irrtümer, die in ihrer Abwesenheit sich erhoben hatten, zurückgewiesen, der Eifer, wo er etwa nachgelassen, neu geweckt würde. Ja, noch mehr, der Geist, der die Apostel in ihrer ganzen Sendung leiten sollte, war es auch, der sie zum Schreiben anregte und ihnen zeigte, was sie schreiben sollten. Die Briefe ebenso wie die historischen Bücher verdanken besonderen Anlässen ihr Entstehen. Matthäus hinterlässt, da er zu anderen Völkern ziehen will, den Juden sein Evangelium, Markus verfasst das seine auf Bitten der Römer, Lukas schreibt seine Bücher für Theophilus, Johannes ergänzt auf die Bitte seiner Umgebung, was in den anderen Evangelien mehr zurückgetreten war.
Die Apostel hatten bisweilen in ihren Briefen gemahnt, die Kirchen sollten sich dieselben untereinander mitteilen. Bisweilen hatten sie ihre Handschreiben nicht an eine einzelne, sondern an mehrere Kirchen als Rundschreiben gerichtet ([2Kor 1,1]; Kol 4,16; Eph 1,1; Jak 1,1; 1Petr 1,1; Judas 1,1; Offenb 1,1] u.a.); andere Briefe endlich waren ihrem Inhalte und derart allgemein, dass, wenn sie auch an eine bestimmte Person gerichtet waren, sie doch alle anzugehen schienen. Was der Römer- und Galaterbrief vom Verhältnis des Neuen Bundes zum Alten lehrte, die Warnungen vor Spaltungen und anderen Fehlern, welche die Briefe an die Korinther enthielten, die Weisungen über die Leitung der Kirchen in den Sendschreiben an Timotheus und Titus konnten allen den größten Nutzen bringen und so werden sich alle Kirchen um den Besitz von Abschriften bemüht haben. So ist es denn nicht wunderbar, wenn schon in den letzten Briefen der Apostel selbst die ersten Anzeichen dafür erscheinen, dass zu ihren Lebzeiten die früheren Briefe gesammelt waren. Die Mahnung des heil. Petrus [2Petr 3,15], zeigt, dass Briefe des heil. Paulus bereits in einer Sammlung vereint waren, und stellt sie den Heiligen Schriften gleich. Paulus schreibt seinerseits dem Evangelium seines Jüngers Lukas kanonische Autorität zu ([1Tim 5,18]) und gleiches Ansehen genossen die übrigen Evangelien, welche der heil. Johannes zu ergänzen unternahm. – In der ältesten Zeit besaßen wohl die verschiedenen Kirchen verschiedene Sammlungen und kaum eine alle Schriften der Apostel, so indes, dass in unserm Kanon kein Buch sich findet, das nicht in der Sammlung einer Kirche sich befunden hätte.
Nur vier kleine Briefe sind es, die bei den Vätern in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts sich nicht erwähnt finden, der Brief an Philemon, der zweite und dritte Brief Johannes und der Brief Juda. In der zweiten Hälfte des gleichen Jahrhunderts fehlt nur der zweite Brief Petri in der abendländischen Kirche, Klemens Alexandrinus (150 – 217) erwähnt alle apostolischen Schriften mit Ausnahme des zweiten Briefes Petri (und des zweiten und dritten Johannes, die er aber kannte). Seltsamerweise wird m Ende des dritten Jahrhunderts ein Buch, das bis dahin von allen Kirchen angenommen war, von den Alexandrinern in Zweifel gezogen und dann auch von anderen Orientalen zurückgewiesen: die Offenbarung des heil. Johannes. – Die beste Übersicht über den Kanon der ersten drei Jahrhunderte bietet uns der Kirchenhistoriker Eusebius (270 – 338). Er führt ins einer Kirchengeschichte alle Bücher auf, welche zu seiner Zeit auf apostolischen Ursprung zurückgeführt wurden, und teilt sie in drei Klassen: a. Allgemein als echt anerkannte. b. Entschieden unechte oder häretische und c. bestrittene. Zu a zählt er die vier Evangelien, die Apostelgeschichte und 14 Briefe des heiligen Paulus; zu b rechnet er u.a. den Hirten des Hermas, die Apokalypse des Petrus, unter c nennt er den Brief des heil. Jakobus, den Brief des Judas, den zweiten Brief des heil. Petrus, den zweiten und dritten des heil. Johannes.
Eine vollkommene Übereinstimmung der Kirche trat erst ein, als der Christenheit nach den Verfolgungen Friede zuteil ward und die Überlieferung allgemeiner uns sicherer festgestellt werden konnte. Kaum hat das Konzil von Nicäa getagt, so tritt eine allgemeine Übereinstimmung in dem angenommenen Kanon des Neuen Testamentes ein, jedenfalls weil das Konzil selbst einen solchen aufgestellt. Während die Überlieferung betreffs des Umfanges des Alten Testamentes eine Zeitlang verdunkelt, zwischen einigen Kirchen des Abend- und Morgenlandes Meinungsverschiedenheiten entstehen ließ, strahlte die Überlieferung betreffs der zum Neuen Testamente gehörigen Bücher immer heller und einmütig hielten Morgen- und Abendland an derselben fest. Für die Gesamtkirche bestand indes keine feierliche Erklärung, die alle in gleicher Weise verpflichtete, bis das Tridentiner Konzil die siebenundzwanzig neutestamentlichen Bücher mit allen ihren Teilen, so sie sie in der alten lateinischen Vulgata enthalten sind, durch ausdrücklichen Glaubenssatz als kanonisch erklärte.
Dritter Abschnitt
Grundtexte und Übersetzungen der Heiligen Schrift.
§ 1. Die Grundtexte.
1. Die Heilige Schrift ist teils in hebräischer, teils in aramäischer, teils in griechischer Sprache ans Licht getreten. Alle protokanonischen Bücher (mit Ausnahme einiger aramäischen Kapitel in Danil und Esdras) sind in hebräischer Sprache verfasst, d.i. in der Sprache, welche die Hebräer, die Nachkommen Jakobs, bis zu ihrer Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft redeten. (Die im Neuen Testamente hebräisch genannte Sprache ist die zur Zeit Christi in Palästina übliche palästinensische oder syrochaldäische). In der babylonischen Gefangenschaft wurde die hebräische Sprache bei den Juden durch die aramäische verdrängt, an deren Stelle später der syro-chaldäische Dialekt trat. Hebräisch (oder aramäisch) wurden auch verfasst die Bücher Judith, Tobias, Baruch, Sirach, 1 Machab. und einige Teile von Daniel ([Dan 3,24-90]; Dan 13; [Dan 14]), sowie Esther ([Est 10-16]), die aber in dieser Gestalt verloren gingen und sich daher nur in Übersetzungen erhalten haben, von welchen die griechische der Septuaginta die älteste ist. Griechisch geschrieben und so erhalten sind das Buch der Weisheit und das zweite Buch der Machabäer, sowie das ganze Neue Testament. Nur das Evangelium des heil. Matthäus war unter den Schriften des Neuen Testamentes ursprünglich hebräisch (aramäisch) geschrieben.
2. Die älteste Schrift der Israeliten, die der Semiten überhaupt, war eine den ägyptischen Hieroglyphen nachgebildete, wie sie uns noch auf Denkmalsinschriften und Münzen der Assyrier, Babylonier, Moabiter und anderer Völker erhalten ist. Allmählich entstand im Osten (bis zum neunten Jahrhundert vor Chr. zurückgehend) bei den Aramäern eine quadratförmige Schriftform, während im Westen, d.i. in Palästina und Phönizien, die ältere Form länger beibehalten ward, aus der die samaritanische Schrift hervorging. Nachdem die Juden nach der Rückkehr aus Babylon die aramäische Sprache angenommen, bedienten sie sich auch der aramäischen Schreibweise, welche allmählich in die Quadratschrift überging, und übertrugen von der Zeit Esdras an die Handschriften der heiligen Bücher in diese.
Die große Ähnlichkeit gewisser Buchstaben in der alten Schrift verursachte bei der Übertragung in die neue viele Fehler; von solchen ist auch die Septuaginta nicht frei, der wohl der Text in der alten Schriftform noch vorlag. Die älteste Schreibweise kannte zudem keine Unterbrechung der Wörter, sondern der Text lief ohne Unterbrechung fort, die Handschriften in der Quadratschrift waren mindestens bis zum sechsten Jahrhundert nach Christus ohne Vokalzeichen. Die Lesung und das Verständnis der Bücher forderte deshalb eine bestimmte Tradition, welche von den jüdischen Schulen fortgepflanzt ward. Immerhin aber kann, da die Tradition bis zur Einfügung der Vokalzeichen nicht ohne Unterbrechung geblieben war, diesen nicht überall das gleiche Ansehen zugeschrieben werden wie den Konsonanten.
3. Da bei der Abschrift der Texte durch die menschliche Gebrechlichkeit kleine Fehler in dieselben eindrangen, suchten gelehrte und erfahrene Männer die eingedrungenen zu beseitigen und weitere durch gewisse Vorsichtsmaßregeln fernzuhalten. Die ersten kritischen Bearbeiter des Textes waren wohl die ersten Sammler des Kanons. Vom fünften Jahrhundert vor Christus bis zum Ende des zweiten Jahrhunderts nach Christus bemühten sich die Schriftgelehrten (oder Zähler) den Text unversehrt zu erhalten, indem sie die Buchstaben zählten und klassifizierten und jenen Text schufen, der uns in den massorethischen Ausgaben noch bis heute erhalten ist. Eine andere Schule, die der Thalmudisten, nahm vom Anfange des dritten bis zum Beginne des sechsten Jahrhunderts die Bemühungen um die Sicherung des überlieferten Textes auf und stellten die Aussprache fest. Eine andere Schule, die Massorethen (Überlieferer) vom sechsten bis neunten oder zehnten Jahrhundert sammelten und ordneten bis dahin nur mündlich überlieferte kritische, grammatische und exegetische Regeln schriftlich und vermehrten dieselben durch neue Vorschriften. Wenngleich der massorethische Text manche Fehler hat, sind diese indes von geringer Bedeutung und hindern den hebräischen Text nicht daran, eine authentische Quelle der Offenbarung zu sein,
Das Alter der bisher aufgefundenen hebräischen Handschriften ist nicht hoch, da die meisten nur bis in das zwölfte Jahrhundert zurückreichen. Nur eine einzige Handschrift der Propheten vom Jahre 916 und ein Manuskript der ganzen hebräischen Bibel vom Jahre 1009 sind bekannt. Die älteste hebräische Handschrift in Deutschland ist der sogenannte Reuchlinsche Kodex vom Jahre 1105 in Karlsruhe.
4. In den ersten christlichen Jahrhunderten zerlegten die Juden die einzelnen Bücher der Heiligen Schrift in Abschnitte, welche beim Pentateuch Paraschen heißen (54 an Zahl), je einer derselben wurde an den Sabbaten in der Synagoge vorgelesen. Auch die übrigen heiligen Bücher enthalten ähnliche Abschnitte, Haphtaren, die dem gleichen Zwecke dienten. Sie sind 85 an Zahl und enthalten nur eine Auswahl.
Die Kapiteleinteilung des hebräischen Textes geht nicht über das fünfzehnte Jahrhundert hinaus. Im dreizehnten Jahrhundert teilte zuerst Stephan Langton († 1228 als Erzbischof von Kanterbury) und nach ihm Kardinal Hugo a. S. Caro († 1262), die Vulgata in Kapitel, eine Teilung, die im fünfzehnten Jahrhundert dann auf den hebräischen Text übertragen ward. Kardinal Hugo a. S. Caro zerlegte auch die einzelnen Kapitel der Vulgata in je sieben Abschnitte, die er mit den Buchstaben a b c d e f g bezeichnete, um das Aussuchen zu erleichtern. Anstatt dieser jetzt noch im Missale und Brevier angeführten Buchstaben führte zuerst der Pariser Buchdrucker Robert Stephanus (Etienne) 1551 in einer griechisch-lateinischen Bibelausgabe die Bezeichnung der einzelnen Verse mit Zahlen ein, die nun allgemein, auch im hebräischen Texte, angenommen ist.
5. Die Bücher des Neuen Testamentes sind in griechischer Sprache abgefasst, welche durch zahlreiche griechische Kolonien auf dem ganzen Erdkreis bekannt geworden war. Das Sprachidiom des Neuen Testamentes ist ebenso wie das der Septuaginta, die von Alexander dem Großen an durch die seiner Herrschaft unterworfenen Länder verbreitete Sprachweise, in welcher der dorische Dialekt der Makedonier vorherrscht.
Die Autographen der Bücher des Neuen Testamentes erhielten sich nicht lange nach der apostolischen Zeit in den Kirchen. Schon Irenäus muss deshalb, um eine Lesart als echt nachzuweisen, auf genauere Abschriften verweisen, da die ersten Christen bei ihren ersten Abschriften vielfach mehr auf den Sinn als auf die Genauigkeit der Buchstaben und Zeichen achteten. Damit die dadurch entstandene Mannigfaltigkeit der Lesarten sich nicht ins Unendliche vermehrte und alle Sicherheit vernichtete, begann man am Ende des dritten Jahrhunderts bereits die besten Handschriften zu sammeln und zu vergleichen und nach diesen die andern zu verbessern, so dass im vierten Jahrhundert, als der Kirche der Friede wiedergegeben ward, bereits ein feststehender Text angenommen zu sein scheint.
Die Zahl der bis jetzt gefundenen griechischen Bibelhandschriften aus dem Altertum beträgt über 2000. Die wichtigsten davon sind: a. Der Codex Vaticanus B. Er enthält die Septuaginta und das Neue Testament und ist in drei Kolumnen geschrieben. Er stammt wahrscheinlich aus Ägypten und entstand um die Zeit des ersten Konzils von Nicäa; b. Der Codex Sinaiticus, den Tischendorf im Jahre 1859 im Kloster der heiligen Katharina am Berge Sinai entdeckte. Er enthält fast die gesamte Septuaginta und das Neue Testament und ist in vier Kolumnen geschrieben. Dem Alter nach gehört er wohl noch dem vierten Jahrhundert an. c. Der Codex Alexandrinus A in London aus dem fünften Jahrhundert. d. Aus derselben Zeit stammt der Codex C, auch Parisiensis oder Ephraemi rescriptus genannt. Diesem schließen sich an: Codex S Matthæi Dublinensis rescriptus Z. (wohl auch aus dem fünften Jahrhundert); Codex Cantabrigensis (sechstes Jahrh.); aus dem gleichen Jahrhundert der Codex Laudianus E. und der Codex Claramontanus D*.
6. Wenngleich der Text des Neuen Testamentes nicht in allem der ursprünglichen Handschrift der Apostel voll entspricht, so ist doch alles, was den Glauben oder die Sitten angeht, auf das vollkommenste unversehrt überliefert. Mithin muss der griechische Text des Neuen Testamentes als authentisch angesehen werden.
§ 2. Die Übersetzungen.
1. Griechische Übersetzungen.
Unter allen Übersetzungen des Alten Testamentes nimmt jene die erste Stelle ein, welche nach der angeblichen Zahl der Übersetzer Saptuaginta heißt und nach ihrem Ursprunge auch die Alexandrinische genannt zu werden pflegt. Die Apostel und Evangelisten haben diese gebraucht, die heiligen Väter sie mit den größten Lobsprüchen gepriesen, ihr beständiger Gebrauch in der griechischen Kirche und die Autorität der aus ihr gefertigten Übersetzungen in der lateinischen ihr eine hervorragende Bedeutung verliehen. Wie an Alter, so übertrifft sie an Ansehen alle anderen Übersetzungen, die Vulgata allein ausgenommen. Die Bücher Moses wurden im Jahre 286 nach Christus unter Ptolemäus Philadelphus übersetzt, die übrigen folgten vor 230.
Die Septuaginta ist die erste unter allen Übersetzungen und hatte wegen des Unterschiedes der griechischen von der hebräischen Sprache, des Mangels gewisser Worte in der griechischen Sprache wie der unzureichenden theoretischen Kenntnis der letzteren so viele Schwierigkeiten zu überwinden, dass es nicht wunderbar ist, wenn sie bisweilen den Sinn nicht genau genug wiedergeben konnte. Im Übrigen hat die Übersetzung nicht in allen Büchern den gleich hohen Wert wie die Übertragung des Pentateuch und nach diesem die der geschichtlichen Bücher. Am mangelhaftesten ist die Übersetzung des Propheten Daniel, weshalb die Kirche statt der Übertragung der Septuaginta die des Theodotiom in ihre Ausgabe aufnahm. Die Übersetzung der Psalmen ist gleichfalls minder gut gelungen, da sie allzusehr an den Zeiten des hebräischen Verbum festhält. Da zwischen der Septuaginta und dem massorethischen Texte manche Verschiedenheiten herrschen, müssen die Übersetzer der ersteren einen von dem heutigen häufig verschiedenen Urtext gehabt haben. Deshalb verdient keiner von beiden Texten unbedingte Zustimmung, sondern in jedem Buche ist an den abweichenden Stellen, mit Beiziehung anderer Übersetzungen und Erwägung der Umstände, zuzusehen, welche Lesart den Vorzug verdient.
Von den späteren Übersetzungen der Juden ist die des Aquila zur Zeit Kaiser Hadrians (117 – 138) zu erwähnen, die sich möglichst eng und wörtlich an den hebräischen Text anschließt. Zur Zeit des Kaisers Kommodus (180 – 193) fertigte Theodotio eine Übersetzung an, welche, sich an die Septuaginta anschließend, deren Fehler aus dem Urtext verbessern sollte. Symmachus, der unter Sereverus (193 – 211) lebte, lieferte eine mehr den Sinn als die Worte wiedergebende Übersetzung.
2. Die Syrische Übersetzung
Unter den ältesten Übersetzungen beider Testamente nimmt eine der ersten Stellen die Peschito genannte syrische Übertragung ein. Diese Übersetzung wurde wohl im ersten Jahrhundert nach Christus begonnen, am Anfange des zweiten Jahrhunderts schloss sich dann die Übertragung des Neuen Testamentes an. Die protokanonischen Schriften des Alten Testamentes sind unmittelbar aus dem hebräischen Texte übertragen, der bisweilen mehr mit dem Texte der Septuaginta als dem massorethischen übereinstimmt. Zu welcher Zeit die deuterokanonischen Schriften aus dem Griechischen übersetzt und dem protokanonischen angeschlossen wurden, ist nicht festzustellen; jedenfalls geschah es aber vor der Zeit des hl. Ephraem. Die Übersetzung ist durchgehend klar und einfach. Das Neue Testament ist etwas freier übersetzt, obwohl auch diese Übertragung wegen ihrer Treue und Durchsichtigkeit gelobt wird.
3. Lateinische Übersetzungen.
a) Die Itala.
An Alter und Ansehen nimmt die alte lateinische Übersetzung, welche gewöhnlich nicht ganz richtig Itala heißt, eine ganz besonders hervorragende Stellung ein. In der Mitte des zweiten Jahrhunderts war sie schon vorhanden, ihr Ursprung ist wahrscheinlich in Afrika zu suchen (nach andern in Rom). Leider ist uns diese Übersetzung weder rein noch vollkommen erhalten. An die Stelle dieser allgemein im Abendlande gebrauchten Übersetzung trat vom Ende des sechsten Jahrhunderts an die neue Übertragung des heil. Hieronymus. In der heutigen Vulgata ist das Neue Testament der Itala entnommen, aber vom heil. Hieronymus durchgehends verbessert, das Psalterium ist nach dem griechischen Texte de hexapla des Origenes (einem sechsfachen Texte) verbessert; die deuterokanonischen Bücher sind aus der Itala herübergenommen, außer den Büchern Tobias und Judith, die der heil. Hieronymus aus dem Aramäischen übersetzte, und Fragmenten von Esther und Daniel, die er aus dem Griechischen übertrug. Die Sprache der Itala ist die der Landbevölkerung (Afrikas); sie ist freier in der Wahl und Beugung der Worte und Bildung der Sätze. Die Bücher haben nicht alle denselben Übersetzer, ihre Vorlage war eine gute.
b) Die Vulgata.
Nicht zufrieden damit, auf Wunsch des Papstes Damasus den alten lateinischen Text der Heiligen Schriften revidiert und verbessert zu haben, übertrug der heil. Hieronymus, von der göttlichen Vorsehung in besonderer Weise dazu ausgerüstet, in den Jahren 389 – 404 das ganze Alte Testament unmittelbar aus dem Hebräischen und Aramäischen (Chaldäischen) mit Berücksichtigung der Septuaginta ins lateinische. So ward er denn in Wahrheit der Verfasser unserer Vulgata, stammte doch von ihm die Übersetzung der protokanonischen Bücher (außer dem Psalterium) und zweiter deuterokanonischer, ist er doch der Verbesserer des Psalteriums und des ganzen Neues Testamentes, so dass nur die anderen deuterokanonischen Bücher des Alten testamentes aus der alten lateinischen Übersetzung stammen.
Meist schließt sich die Übersetzung so an den ihr vorliegenden Text an, dass sie dessen Sinn treu, oft mit einer gewissen Eleganz wiedergibt, indes fehlt es doch nicht gänzlich an solchen Stellen, wo der Übersetzer sich allzu eng an die Worte des hebräischen Urtextes hält, ja an einigen Stellen ist es selbst geschehen dass er dem Sinne des Textes seine eigene Erklärung unterschob. Die neue Übersetzung fand nicht sofort überall gute Aufnahme, wie die Vorreden des heil. Hieronymus zu den heiligen Büchern zeigen. Die römischen Päpste hielten es dem gegenüber nicht für angemessen, die neue Übersetzung allgemein vorzuschreiben. Die meisten, welche im fünften und sechsten Jahrhundert die Kirche regierten, führten in ihren Briefen die alte Übersetzung an, Leo der Große indes (440 – 461) und der heil. Hilarius (461 – 468) brauchen beide. Johannes III. (560 -578) und seine beiden Nachfolger Benedikt I. und Pelagius II. führen nur die Übersetzung des heil. Hieronymus an, doch auch unter Gregor dem Gr. (590 – 604) hat diese noch nicht den vollen Sieg davongetragen. In den Akten des Lateran-Konzils vom Jahre 649 wird nur die Hieronymianische Übersetzung angeführt, dies Beispiel der römischen Kirche zog die anderen nach sich und bald hatte die neue Übersetzung die alte verdrängt.
Als die älteste Handschrift des vom heiligen Hieronymus revidierten Textes gilt der um 546 geschriebene Codex Fuldensis des Neuen Testamentes (Herausgegeben von Ranke Marburg 1868). Diesem steht nahe der gegen Ende des siebten oder Anfang des achten Jahrhunderts in England geschriebene Codex Amiatinus, so genannt nach dem Kloster Amiata bei Florenz, wo er früher (ehe er nach Florenz kam) aufbewahrt ward. Dieser umfasst die ganze Bibel mit Ausnahme des Buches Baruch (Herausgegeben von Tischendorf, Leipzig 1854). Beide übertrifft an Alter ein Fragment des Buches der Richter, Ruth und Job aus dem fünften oder dem Anfange des sechsten Jahrhunderts, bobiensis palimps.
2. Im Laufe der Zeit kamen durch die vielen Abschriften wie durch manche Korrekturen, die sich die Bibelbesitzer erlaubten, zahlreiche Verschiedenheiten in die lateinischen Bibelexemplare. Dies rief den Versuch mancher Gelehrter hervor, aus alten Handschriften, den heiligen Vätern, Kommentaren, Glossen usw. diejenigen Lesarten festzustellen, welche den Vorzug verdienten, so dass in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts jeder Orden sein eigenes Korrektorium hatte. Leider wurde damit die Verschiedenheit keine geringere.
Nach der Erfindung der Buchdruckerkunst war die Vulgata das erste Werk, welches gedruckt erschien und kein Werk wurde bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts häufiger gedruckt als der Bibeltext, dem bisweilen Verbesserungsvorschläge am Rande beigefügt waren.
3. Die Protestanten verwarfen im sechzehnten Jahrhundert die Vulgata vollständig, manche Katholiken schrieben ihr nicht die gebührende Autorität zu, andere änderten nach ihrem persönlichen Gutdünken im Texte, indem sie das Gleiche bei anderen tadelten. Es war also nötig, dass das Tridentiner Konzil sich mit der Frage befasste, welche Missstände in dieser Beziehung sich eingeschlichen und welche Mittel dagegen zu ergreifen waren. In Anbetracht des nicht geringen Nutzens, der der Kirche daraus erwachsen könne, wenn klar gestellt werde, welche aus sämtlichen im Umlauf befindlichen lateinischen Ausgaben d.i. Übersetzungen der Heiligen Schrift für authentisch zu halten sei, stellte das Konzil fest und erklärte, „dass eben jene alte und allverbreitete Ausgabe und Übersetzung, die Vulgata, welche durch den langen Gebrauch so vieler Jahrhunderte in der Kirche selbst erprobt und bestätigt ist, in den öffentlichen Vorlesungen, Disputationen, Predigten und Lehrauseinandersetzungen für die authentische zu halten sei und dass folglich niemand wagen und sich anmaßen dürfe, dieselbe unter irgend einem Vorwande zu verwerfen.“
Der Ausdruck authentisch wird bei schriftlichen Urkunden zunächst vom Original gebraucht, dann aber auch ebenso von Abschriften. Eine Originalurkunde ist authentisch, wenn sie mit der Originalurkunde übereinstimmt, eine Übersetzung, wenn sie das Original treu wieder gibt. Die Authentie des Ursprungs und der Übereinstimmung der Übersetzung, soweit sie eine innere Eigenschaft ist, heißt innere Authentizität. Diese innere Authentizität ist zugleich eine äußere, insofern sie sich nach außen manifestiert, d.i. wenn sie auch äußerlich anerkannt und zur Anerkennung gebracht ist.
Geht diese Anerkennung von einer öffentlichen autoritativen Gewalt aus, so verpflichtet sie alle ihre Unterworfenen zur Anerkennung. Die Erklärung des Tridentiner Konzils erhebt die Vulgata nicht etwas zum Urtexte, was unmöglich wäre, noch setzt sie dieselbe jenem in jeder Beziehung gleich, sondern stellt einzig fest, dass der lateinische Vulgatatext in der Kirche öffentliche Autorität genießt, weil die Kirche für ihn mit ihrer Autorität eintritt. Die vorhandenen Urtexte und alten Übersetzungen werden von dieser Erklärung nicht berührt, sondern behalten denselben Wert, den sie etwa vorher hatten.
Über die Tragweite dieser Erklärung einige kurze Bemerkungen:
a. Die Vulgata wird für fehllos erklärt in allem, was den Glauben und die christliche Sittenlehre betrifft.
b. Nicht wird eine absolute Vollkommenheit des Textes und der Übersetzung der Vulgata behauptet. Daher sagt Leo XIII. in seinem Rundschreiben über die Heilige Schrift: „Obgleich in der Regel aus dem Texte der Vulgata der Sinn des hebräischen und griechischen Textes zu erkennen ist, so wird doch, wo etwas zweideutig oder minder genau von dort herübergenommen sein sollte, die Einsicht in die vorhergehende Sprache nach dem Rate des hl. Augustin von Nutzen sein.“
4.Da die Vulgata in vielen verschiedenen Ausgaben große Textabweichungen zeigte, verordnete das Tridentiner Konzil ferner, „dass fortan von der Heiligen Schrift und namentlich von der Vulgata die Ausgaben so fehlerfrei als möglich im Drucke erscheinen sollten.“ Dadurch sollte der Willkür der Herausgeber gesteuert und das Zurückgehen auf die kirchliche Tradition als der richtige Weg zur Herstellung eines reinen Bibeltextes bezeichnet werden.
Nachdem mehrere Versuche von Privaten das gewünschte Resultat nicht erreicht hatten, beschloss der Heilige Stuhl selbst eine offizielle Ausgabe der Vulgata zu veranstalten. Diese römische Ausgabe erschien nach vielen sorgfältigen Vorarbeiten unter Sixtus V. 1590 und in einer noch genaueren Form unter Klemens VIII. 1592. Da sich aber in der letzteren Ausgabe noch einige Druckfehler fanden, wurden in den Jahren 1593 und 1598 noch sorgfältigere Neudrucke veranstaltet. Diese Ausgabe gilt als die kirchliche Normalausgabe, mit der alle Neudrucke der Vulgata übereinzustimmen haben.
Wie das Alte Testament einst zur Vorbereitung der Welt auf Christus in die damalige Weltsprache, ins Griechische übersetzt ward, so in späterer Zeit die ganze Heilige Schrift in die Sprache Roms, des Sitzes Petri und des Mittelpunktes der katholischen Einheit. Von Glaubensboten der apostolischen Zeit verfasst, war die Itala in der römischen Volkssprache die kirchliche Ausgabe der Heiligen Schrift auf dem Erdenrunde geworden, bis die Vulgata an ihre Stelle trat.
Vierter Abschnitt
Der Sinn der Heiligen Schrift.
§ 1. Der Sinn der Heiligen Schrift im Allgemeinen.
Der Sinn der Heiligen Schrift ist das, was ihre Worte nach der Absicht des Heiligen Geistes unmittelbar oder mittelbar bezeichnen und kundgeben. Hiernach ist eine doppelte Art des Sinnes zu unterscheiden, je nachdem die Worte der Heiligen Schrift die vom Heiligen Geist beabsichtigte Wahrheit unmittelbar aus dem kundgeben, was sie bedeuten: buchstäblicher (historischer) Sinn (sensus literalis), oder je nachdem die Worte, Personen, Handlungen ein Abbild anderer Dinge sind: Geistiger Sinn (sensus spiritualis).
Der geistige Sinn, in dem Sichtbares Bild des Unsichtbaren ist, leitet den Menschen zum rechten Glauben und zum rechten Handeln an. Insofern er zum echten Handeln anleitet, heißt er auch moralischer Sinn (sensus moralis oder tropologicus). Insofern der geistige Sinn zum rechten Glauben führt, kann wiederum das Objekt des Glaubens ein doppeltes sein, da die Kirche auf Erden in der Mitte steht zwischen der Synagoge und der triumphierenden Kirche im Himmel. Das Alte Testament war das Abbild des Neuen, das Alte und das Neue sind zusammen das Abbild des Himmlischen. So kann also der zum rechten Glauben anleitende geistige Sinn auf das Alte Testament gehen, soweit dies ein Abbild des Neuen ist: So ist der Sinn allegorisch oder typisch (sensus allegoricus seu typicus), insofern das, was im Alten Testament enthalten ist, auf Christus und die Kirche bezogen wird. Wiederum aber kann der geistige Sinn auf jenem Verhältnis des Bildes fußen, in dem das Alte und Neue Testament auf die triumphierende Kirche weisen, dann ist der Sinn ein analogischer (sensus anagogicus) (Hl. Thomas).
§ 2. Der Literal-Sinn.
1. Der literal- oder historische Sinn ist derjenige, welchen die Worte unmittelbar aus sich nach der Absicht des Heiligen Geistes kundgeben. Die Bezeichnung historisch steht im Gegensatz zu dem Worte prophetisch, insofern in einem Ereignisse, das die Worte kundgeben, zugleich ein anderes vorbedeutet ist, auf das die Dinge selbst weisen.
Wiederum kann etwas in doppelter Weise durch den Wortsinn bezeichnet werden, entweder nach der ureigenen Bedeutung der Redeweise, wie wenn ich sage: der Mensch lacht, oder nach einer Ähnlichkeit, wie wenn man sagt: die lachenden Fluren. Beide Redeweisen finden wir in der Heiligen Schrift, die erstere, wenn es heißt: Jesus fuhr auf zum Himmel, die andere, wenn gesagt wird: er sitzt zur Rechten Gottes. Die metaphorische oder gleichnisweise Rede fällt also unter den Literalsinn. Wenn es also in der Heiligen Schrift heißt: Gottes Arm, so ist nicht der Literalsinn, dass Gott ein derartiges körperliches Organ hat, sondern das, was durch dieses Glied bezeichnet wird, die Tatkraft (Thom.). Dies allein will ja der Heilige Geist uns kundtun, nicht aber beabsichtigt er, uns bei dem Bilde als einer Wirklichkeit stehen zu lassen. In gleichem bildlichen Sinne sind die Worte des Heilandes zu verstehen: Ihr sei das Salz der Erde ([Mt 5,13]) und andere ([Lk 3,9]). Auch das Gleichnis, welches eine erdichtete Sache, als ob sie geschehen wäre zu dem Zwecke vorstellt, damit eine Wahrheit lebhafter erkannt werde, eine Sache nachdrücklicher empfohlen oder wirksamer vor ihr gewarnt werde, gehört zum Literal-Sinn. Ein Vergleich ist eigentlicher Literalsinn, nicht übertragener.
2. a. Hat jeder Satz der Heiligen Schrift einen Literalsinn? Der Heilige Geist redet zu den Menschen auf ihnen verständliche Weise, deshalb lässt er den Worten die Bedeutung, welche sie nach menschlicher Gewohnheit und Herkommen haben. Mithin muss jeder Ausspruch eines heiligen Schriftstellers ebenso gut einen Literalsinn haben wie die Worte eines Profanschriftstellers. Im anderen Falle wäre es um die ganze Heilige Schrift geschehen. Ohne Literalsinn überhaupt kein Sinn. Dies ist die Ansicht der heiligen Väter Hieronymus, Augustinus, Gregorius d. Gr. Und Thomas.
b.Ist in der heiligen Schrift ein mehrfacher Literalsinn zuzulassen? Nach der allgemein geltenden Ansicht der Ausleger und Theologen: Nein, so wenig die Worte der profanen Schriftsteller einen mehrfachen Literalsinn zulassen. Gewiss gibt es Worte, die mehreres bedeuten können, aber der Redende gibt ihnen eine bestimmte beschränkte Bedeutung (wie Joh 6,52). Auch der Umstand, dass in einem Vergleiche oder einem Bilde der eigentliche Sinn gleichfalls wahr sein kann oder ist (Lk 3,9) oder dass außer dem Literalsinn auch ein geistiger Sinn an einer Stelle zuzulassen ist oder dass aus einem Texte rechtmäßige Schlüsse gezogen werden können, ändert an dieser Wahrheit nichts.
3. Vieles findet sich in der Heiligen Schrift, was, wenn man nur den Literalsinn ins Auge fasst, nicht ganz dem Worte des heil. Paulus zu entsprechen scheint: Alles, was geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben ([Roem 15,4]) und: Alle von Gott eingegebene Schrift ist nützlich zur Belehrung, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit ([2Tim 3,16]). Solche Worte bringen den vom heil. Paulus verheißenen Nutzen, wenn wir in frommer Betrachtung daraus praktische Folgerungen ziehen, wie davon uns die heiligen Schriftsteller einige Vorbilder gegeben und die heiligen Väter zahleiche Beispiele hinterlassen haben. So ist die Stelle [1Kor 9,10.11] ein Schluss des heil. Paulus aus [5Mos 25,4] von dem Geringeren auf das Höhere: Wenn Gott, dessen Vorsehung doch nicht in besonderer Weise über die Tiere wacht, dennoch angeordnet, dass ihnen die Frucht ihrer Arbeit nicht entzogen werden darf, so war es doch noch vielmehr sein Wille, dass die apostolischen Arbeiter, über die er mit besonderer Sorge wacht, das empfangen, wessen sie bedürfen. An einer Stelle ([1Kor 1,31]) führt der heil. Paulus eine Folgerung aus [Jer 9,23.24] geradezu als Ausspruch des Heiligen Geistes an, an anderen wird zugleich beigefügt, was zu ergänzen ist (an der oben bereits angeführten Stelle [1Kor 9,10.11] aus [5Mos 25,4]), an anderen Stellen werden wiederum Worte der Heiligen Schrift so angeführt, dass dem Leser selbst der Schluss überlassen wird ( [1Tim 5,18] aus [5Mos 25,4]). Wenn auch derartige Folgerungen, welche durch eine andere offenbarte Wahrheit vermittelt werden, dem heiligen Verfasser selbst nicht immer vorschwebten, so waren sie doch dem Heiligen Geist bekannt, dem ersten Urheber der Heiligen Schriften.
§ 3. Der typische (geistige) Sinn.
1. Da Gott der Urheber der Heiligen Schrift ist, konnte er nicht allein durch Worte usn Offenbarungen vermitteln, wie der Mensch durch solche seine Gedanken offenbart, sondern auch durch die Dinge selbst. Dies also unterscheidet die Heilige Schrift von andern Büchern, dass nicht allein die Worte, sondern auch die durch dieselben bezeichneten Dinge etwas bedeuten können. Die Bedeutung der Worte bildet den Literalsinn, die Dinge, welche noch eine Bedeutung haben, den auf dem Literalsinn aufgebauten typischen (geistigen, mystischen, allegorischen) Sinn.
Das Fundament des typischen Sinnes bilden jene Personen oder Dinge (Handlungen, Ereignisse, Opfer, Einrichtungen usw.), welche Gott in seiner bewunderswerten Vorsehung, die nicht wie die Menschen zur Kundgebung auf Worte beschränkt ist, so geordnet hat, dass sie zukünftige Personen oder Dinge vorausbezeichneten, sie vorhersagend oder gleichsam vorabdarstellend. Nach heutigem Sprachgebrauche nennen wir die Dinge, denen eine solche Vorbedeutung eignet, Typen, die von ihnen vorbedeuteten Dinge Antitypen.
2. Es gibt drei Arten von Typen. Die Personen oder Sachen des Alten Testamentes sind von Gott nämlich so geordnet, dass sie den Messias und sein Leben oder andere mit seiner Person und seinem Reiche in Verbindung stehende Personen oder Dinge vorbedeuten: prophetische (allegorische) Typen; oder die Personen und Sachen beider Testamente sind so geordnet, dass sie auf himmlische Dinge weisend, unser Herz über diese Erde emporheben: anagogische Typen; oder endlich so, dass sie gewisse Richtschnuren enthalten, nach denen wir das Leben einzurichten haben: Tropologische Typen. – Am häufigsten sind in der Heiligen Schrift die prophetischen Typen z.B. [Roem 5,14; Hebr 7,3; Gal 4,24; Joh 19,36; 1Kor 10,2]. Seltener sind die anagogischen Typen ([Offenb 21,2]) und die tropologischen ([Weish 16,27ff]). Die beiden letzten Arten von Typen finden sich häufiger in den Werken der heiligen Väter.
Anmerkung: Von den Typen sind die Symbole zu unterscheiden. Im Propheten Ezechiel begegnen wir einige Male gewissen symbolischen Handlungen, welche etwas Zukünftiges vorbedeuten, die aber nur deshalb da sind, weil sie vorbedeuten, so dass sie ohne diese Aufgabe vorzubedeuten nicht da wären. Die Typen aber sind um ihrer selbst willen da, nur wird ihnen als weitere Aufgabe zugewiesen, dass sie vorherbedeuten sollen. Ein Beispiel des Symbolismus bietet [Ez 12,2ff], des Typus [2Mos 14,22ff]. Demgemäß kommt symbolischen Handlungen so wenig wie symbolischen Visionen ein anderer als ein metaphorischer Literalsinn zu.
Der dreifachen Gattung von Typen entspricht ein dreifacher typischer Sinn: der prophetische, der anagogische, der tropologische, die übrigens sehr wohl, wenngleich in verschiedener Weise, an einem und demselben Gegenstande sich finden können. So ist Jerusalem, sagt Kassias, im Literalsinne die Stadt der Juden, im typisch-prophetischen Sinne die Kirche Christi, im typisch-anagogischen die Himmelsstadt, unser aller Mutter, im typisch-tropologischen die Seele des Menschen.
3. Ist in der Heiligen Schrift auch ein typischer Sinn anzunehmen? Viele Protestanten bestreiten dies heute. Und doch bezeugt die Heilige Schrift selbst Joh 19,36, dass, was Ex 12,46, Num 9,12 im Literalsinne von dem Osterlamme gesagt ist, in Christus erfüllt ist. Nach Gottes Willen und Anornung also war das Osterlamm ein Typus des Herrn, sonst durfte der Evangelist nicht jene Worte auf Christus anwenden und sie in ihm erfüllt sehen. (Vergl. auch [1Kor 10,1ff]; Mt 2,15; Gal 4,22.23; 1Petr 3,20.21; Roem 5,14]; Hebr 7,3; Hebr 1,5] u.a.) Diese Wahrheit ist so klar, dass alle alten Väter und Theologen sie immer und immer wieder einschärfen, von Barnabas und dem heil. Klemens Romanus angefangen.
4. Kann aus dem typischen Sinne ein Beweisgrund hergenommen werden zur Beleuchtung und Stütze einer Wahrheit? Gewiss, soweit kommt dem typischen (wie dem Literalsinn) eine Beweiskraft der Wahrheit zu als nachzuweisen ist, dass Gott selbst ihn beabsichtigt hat. Beispiele hiervon finden sich in der Heiligen Schrift zur Genüge, doch bleibt auch die Beweiskraft des typischen Sinnes, da es sich um eine sonst verborgene Absicht Gottes handelt, auf diejenigen Stellen beschränkt, von denen die Apostel oder das unfehlbare Lehramt der Kirche uns das Vorhandensein des typischen Sinnes bezeugen, wie [Hebr 1,5] (aus [2Koen 7,14]). – Die heiligen Väter haben freilich in ihren Predigten zur Erbauung, nicht zur Beweisführung, freien typischen Sinn in die Heilige Schrift gelegt.
5. Sind alle Einrichtungen des Alten Bundes und alle Aussprüche des Alten Testamentes typisch? Gewiss war der Alte Bund ein Typus des Neuen, denn das bezeugen die Apostel, aber keineswegs waren alle Einrichtungen des Alten Bundes Typen des Neuen, noch hatten alle Aussprüche eine typische Hinweisung auf das Neue Testament, wie z.B. [5Mos 6,5] u.a. gewiss außer dem Literalsinn keinen typischen zulässt.
6. Enthält auch das Neue Testament Typen und lässt es einen typischen Sinn zu? Messianische Typen sind im Neuen Testamente freilich nicht, aber wie das Alte Testament ein Vorbild des Neuen, sagt der heilige Thomas, so ist auch das Alte wie das Neue ein Abbild des Himmels.
7. Welcher Sinn ist vorzuziehen, der Literalsinn oder der typische? Wenn wir auf den Urheber schauen, hat jeder der beiden Sinne den gleichen Wert, den beiden hat Gott ihn verliehen und es macht keinen Unterschied, ob er eine Wahrheit durch Worte oder durch Dinge bezeichnet und kundgibt. Immerhin gehört die Sache, welche durch den typischen Sinn bezeichnet wird, einer höheren Ordnung an als diejenigen, welche die Worte der Stelle unmittelbar zum Ausdruck bringen, denn das Bedeutete hat höhere Würde als das Bedeutende, das Osterlamm steht unendlich tiefer als Christus. Indes damit ist nicht gegeben, dass der typische Sinn unbedingt über dem Literalsinne steht. Denn erstlich setzt der typische den Literalsinn voraus, sodann ist letzterer meist sicherer und klarer und umfasst auch die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes.
§ 4. Die Akkomodation.
Akkomodation heißt die Anwendung eines Satzes der Heiligen Schrift auf eine Sache, welche der heilige Text zu berücksichtigen nicht die Absicht hatte, wegen einer gewissen Ähnlichkeit des Gegenstandes. Das Fundament der Ähnlichkeit kann ein doppeltes und so auch die Akkomodation eine zweifache sein. Erstlich werden nämlich die Worte, welche die Heilige Schrift von einer Person oder Sache sagt, auf eine andere übertragen, an der jene gleichfalls wahr werden: Akkomodation durch Ausdehnung, Übertragung. Eine solche Akkomodation findet sich bisweilen in den Offizien der Kirche, welche auf die Heiligen die Worte anwendet, die Jesus Sirach [JSir 44,17.25] von Noe und Aaron brauchte. Eine zweite Art von Akkomodation besteht darin, dass bestimmte Worte der Heiligen Schrift in der ihnen von Natur aus eigenen Bedeutung auf eine ganz andere als die im heiligen Buche beabsichtigte Sache angewendet wird, derart, dass ein bloßes Wortspiel vorhanden ist. So wird die Stelle [Ps 67,36]: Mirabilis Deus in sanctis suis (d.i. nach dem Hebr. in seinem Heiligtum) oft so angewendet, dass Gott wunderbar in den Heiligen heißt. In ähnlicher Weise wird [Ps 17,27] oft in ganz anderem Sinne als dem des Psalmisten gebraucht. Während die erste Art der Akkomodation den Worten der Heiligen Schrift wenigstens den Wortsinn belässt, wendet die zweite Art die Bedeutung künstlich um.
Von der ersten Art der Akkomodation bietet auch die Heilige Schrift selbst einige Beispiele wie [Hebr 13,5] (nach [Jos 1,5]), [2Kor 8,15] (aus [2Mos 16,18]), [Offenb 11,4] (aus [Sach 4,14]).
Da nun die Heilige Schrift selbst das Beispiel gibt, auch die heiligen Väter mehrfach die Heilige Schrift in akkomodiertem Sinne anwenden, ist dies auch den frommen Schriftstellern gestattet, wenn dies in gewissen Grenzen geschieht. Man darf nämlich: a. Keine Texte akkomodiert anführen, um einen Glaubenssatz zu beweisen oder zu stützen. b. Nur jene Akkomodationen sind zulässig, welche der Liebe und der Wahrheit dienen (Hl. Bernhard). c. Jeder Gegenstand, auf den ein Wort der Heiligen Schrift akkomodiert angewendet werden soll, muss eine gewisse Ähnlichkeit mit dem haben, von dem der heilige Schriftsteller redet. d. Sorgfältig muss man die Mahnung des Tridentiner Konzils beachten, nie die heiligen Worte der Schrift auf profane Gegenstände anzuwenden, jene lächerlich zu machen oder sonst wie unwürdig anzuwenden.
Wir schließen mit der Mahnung Leos XIII: „In den Heiligen Schriften liegen für unser und anderer Heil und Vervollkommnung vorzügliche Hilfsmittel bereit, welchen die Psalmen gar reiches Lob spenden, freilich nur für jene, welche für die göttlichen Aussprüche nicht bloß einen gelehrigen und aufmerksamen Sinn, sondern auch eine unverdorbene und fromme Willensrichtung mitbringen. Denn diese Bücher haben nicht eine ähnliche Beschaffenheit wie die gewöhnlichen. Nein, sie sind vielmehr vom Heiligen Geist diktiert und enthalten Dinge von höchster Wichtigkeit, welche in vielen Stücken verborgen und gar schwierig sind, Deshalb haben wir zu ihrem Verständnis und ihrer Auslegung immer den Beistand desselben Geistes vonnöten, d.h. seine Erleuchtung und Gnade, diese Gaben aber muss man, dafür steht das Ansehen des göttlichen Psalmensängers an vielen Stellen ein, durch demütiges Gebet erflehen und durch heiligmäßiges eben bewahren.“
Fußnote
(1) Encyklika über das Studium der Heiligen Schrift 18. November 1893 (Providentissimus Deus).
(2) Cone. Vat sess. III c. II.
(3) Schreiben an den Erzbischof von München 21. Dezember 1863.
(4) Wenn manche heil. Väter bei der Erklärung der Stellen, die nach dem Augenschein über den Stillstand der Erde und die Bewegung der Sonne berichten, auch selbst nach dem Augenschein geurteilt haben, so haben weder die Stellen selbst noch die heiligen Väter etwas von der objektiven Wirklichkeit gesagt. Darum erklärten sie auch ein Abgehen von der Erklärung nach dem Augenschein nicht für unzulässig, geschweige denn für glaubenswidrig; durch den Fortschritt der Naturwissenschaft kann eine Erklärung der Väter in naturwissenschaftlichen Dingen als irrtümlich erwiesen werden.
(5) Nur vom hl. Hieronymus kann dies zweifelhaft sein, indes in der Praxis behandelt und führt auch er die deuterokanonischen Schriften in gleicher Weise an.
(6) Sess. 4.
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